Sonnenwende
hatte ausnahmsweise niemanden, auf den er die Schuld schieben konnte, und sagte: »Stimmt!«, sprang auf und lief ihr nach. Er musste sich sputen, aber der Weg war steinig und er barfuß – er lief über glühende Kohlen. Tom, Paul und Martin sahen ihm nach, wie er eilig hinter einer Biegung verschwand.
Keine fünf Minuten später kam er zurück, und so verkrampft er ihr vorher gefolgt war, so lässig schlenderte er jetzt den Weg entlang.
Paul: »Hast du sie noch erwischt?«
Wladimir: »… Hm?«
Tom: »Ob du sie eingeholt hast?«
»Oh. Ja. Auf dem Parkplatz.«
Paul: »Und?«
»Hm? Oh. Desdemona. Sie heißt Desdemona.«
Martin: »Desdemona?«
»Ja. Komisch, nicht?«
Tom: »Sonst noch was?«
»… Was?«
Paul: »Werdet ihr euch wiedersehen?«
»Oh. Ja, heute Abend. Wir gehen ins Kino – ›Zweiohr küken ‹.«
Tom: »›Zweiohrküken‹?!«
»Vielleicht ist der gar nicht
so
schlecht.«
Jetzt, da Desdemona gegangen war, gab es für Wladimir keinen Grund mehr zu bleiben.
»Ich hab’ genug. Tom, was ist mit dir?«
Toms Gedanken waren gefangen in den Ereignissen der |165| letzten Stunden. So viel Unbill, wie ihm heute widerfahren war – das ließ sich kaum steigern. Er war frustriert. Und müde. Jeder Ort war so gut wie der andere.
»Von mir aus.«
Paul beschloss, dass der beste Einstieg für einen Abend wie diesen noch immer der aktuelle Spielfilm auf Sky war, während Martin noch mal bei Elsa vorbeiging, um sie davon in Kenntnis zu setzen, dass ihre Version von seiner Examensparty sich nicht mit der von Paul deckte.
Tom sah mit Unbehagen einem weiteren kleinen Begräbnis mit Helen entgegen. Zur Not konnte er sich bei Paul einklinken, aber eigentlich machte er sich nichts aus Fernsehen.
Wladimir wollte sich auf sein Date einstimmen. Desdemona war wirklich etwas Besonderes, so eine lief einem nicht jeden Tag über den Weg. Mit der könnte er es länger aushalten. Diese Anmut! Und dieses Lächeln. So beflügelt wie jetzt gerade hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.
»Ich freu’ mich«, hatte sie gesagt und dabei gelächelt, dass er für einen Moment die Steine unter seinen Fußsohlen nicht mehr gespürt hatte. Und er stand da wie ein Tropf und sagte: »Ich mich auch.«
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|166| Ada
Ada hatte sich Phosphorsterne gekauft, eine ganze Tüte voll. Sie sahen ganz blass aus, so farblos. Bei Nacht aber, wenn sich das Zimmer langsam auflöste, offenbarten sie ihre verborgene Schönheit. Dann verschwanden die Kanten und Ecken nach und nach, und die Sterne traten hervor. Es waren zwei Monde dabei und sogar ein Raumschiff. Das war zum Zusammenstecken und hing jetzt an einem Faden von der Decke. Wenn sie bei offenem Fenster schlief, bewegte es sich leicht im Luftzug. Manchmal spielte Wladimir, wenn es draußen schon dunkel war, seine Himmelsmusik. Dann lag Ada auf dem Rücken in ihrem Bett und strich von Zeit zu Zeit mit dem Zeigefinger über die Narbe an ihrem Daumen. Das beruhigte sie.
Irgendwann würde Ada sie ihm zeigen, ihre Sterne. Er würde sie mögen. Er war ein Mann, der nach den Sternen griff, der sich nicht zufriedengab mit dem, was ihm das tägliche Leben auftischte. Sie stellte sich vor, wie Wladimir in dem Raumschiff, das von der Decke hing, um die Erde schwebte. Wenn er hinabblickte, kreisten seine Gedanken um sie, und wenn sie zum Himmel hinaufsah, wusste sie, dass er dort oben an sie dachte. Das war die reinste Liebe, die es geben konnte.
***
Sie wusste nicht, warum sie es getan hatte. Sie wollte einfach wissen, was für ein Gefühl das war, in sein eigenes Fleisch zu schneiden. Mit Absicht zu schneiden. Sie hatte an neulich |167| denken müssen, als sie sich geschnitten hatte, und dass es wie eine Erleichterung gewesen war. Später hatte sie auch mal gedacht, dass es vielleicht wegen Vater gewesen war, schließlich hatte er an dem Tag ja Geburtstag gehabt.
Zwei Wochen danach hatte sie es dann absichtlich getan, an einem Sonntag. In der Küche. Da war ein komisches Gefühl, als sie das Messer ansetzte. Ein Gefühl wie … Lust? Ihr Beckenboden wurde ganz weich, sie musste sich hinsetzen. Die Brustwarzen waren auch ganz hart, und ihre Hände und Füße haben gekribbelt. Es ging dann aber ganz einfach. Sie setzte das Messer an und zog es langsam über die Kuppe ihres Daumens. Sie achtete darauf, den Schnitt vom letzten Mal nicht zu kreuzen. Bevor die Haut aufplatzte, wurde sie weiß. Der Spalt lief dann ziemlich schnell mit Blut voll, da war sie noch gar nicht fertig.
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