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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Wieder musste sie den Daumen mit einem Küchentuch umwickeln, es war nichts anderes da. Sie hatte nicht daran gedacht, dass es bluten würde, manchmal war sie einfach gedankenlos. Der Schmerz kam ganz langsam, als ginge sie durch warmen Nebel, und als er dann da war, fühlte sie sich wieder wie befreit.
    Ada war stolz darauf, weil sie sich besser fühlte, weil es
ihr
Schnitt war. Sie wischte das Blut weg und wusch das Messer ab. Ein wenig war sie enttäuscht, weil sie sich vorgestellt hatte, das Schneiden könnte sich angenehm anfühlen, wie bei einer reifen Nektarine oder einer saftigen Birne. Aber Haut und Fleisch hatten aneinandergeklebt, das Innere stumpf und unwillig. Vielleicht lag’s auch am Messer.
    Inzwischen hatte es zu bluten aufgehört. Der Spalt war geschlossen, aber die Seiten passten nicht richtig aufeinander. Diesmal würde sie es nähen lassen müssen, da half auch kein Wladimir. Natürlich nicht in ihrer Klinik, nachher hätte sie da noch jemand erkannt und komische Fragen gestellt. Schon einmal war sie von einem Arzt angesprochen worden, der sie |168| gefragt hatte, ob sie nicht zur Sommerfeier kommen wollte, sie sei doch die MTA aus dem Labor. Da hatte sie sich furchtbar erschreckt, weil sie immer gedacht hatte, dass niemand sie sehen würde.
    Vorne an der Ecke gab es eine kleine Ambulanz. Eine Ärztin hatte Dienst, zum Glück kein Arzt. Als Ada sagte, sie habe sich aus Versehen geschnitten, guckte sie zweifelnd, sagte aber nichts. Die andere Narbe war noch so frisch. Sie wollte Ada gleich drei Tage krankschreiben, aber das kam nicht in Frage, in der Klinik sollte nicht über sie geredet werden. Bei der Arbeit ließ sie immer größtmögliche Sorgfalt walten, sie wollte auf keinen Fall, dass jemand an ihr etwas auszusetzen hatte. Niemals war sie nachlässig. Das nächste Mal durfte sie nicht den Daumen nehmen und auch lieber nicht das geriffelte Messer, sondern eins mit glatter Klinge. Dann würde sie besser wissen, wie tief sie schnitt.
    Zu Hause wurde sie von Musik empfangen, Wladimir flüsterte ihr wärmende Worte ins Ohr. Wie ein guter Geist. Seit er da war, fühlte sie sich sicherer. Dann wurden all die Dinge unbedeutend, die ihr so oft diese grässlichen Kopfschmerzen bereiteten. Jetzt spielte er wieder etwas, das sie beruhigend umfing. Musik, die höhere Wahrheiten zu enthalten schien und ihr die tröstende Sicherheit gab, dass in allem ein verborgener Sinn enthalten war.
    ***
    Von ihrem Großvater hatte sie eine Fotoausrüstung geerbt, die seitdem unberührt in einem Koffer unter dem Bett lag. Ada verstand nichts davon. Ihr Großvater hatte so schöne Bilder gemacht, sie war ihrer nicht würdig.
    Doch dann war der Geburtstag ihres Vaters gekommen, an dem sie sich aus Versehen in den Finger geschnitten hatte, |169| und die Begegnung mit Wladimir und diese seltsame Sonnenfinsternis und das Liebespaar im Krankenhaus. Und als sie am Abend nach Hause ging, wollte sie irgend etwas von diesem Tag zurückbehalten, das sie immer an ihn erinnern würde. Sie zog den Koffer unter dem Bett hervor und bestaunte die schwere Kamera; eine Stunde später war der erste Film voll.
    Seitdem fotografierte sie alles, was in ihrem Leben wichtig war: die Sonne, wenn sie abends durchs Küchenfenster schien, die Bücher in ihrem Regal, die Phosphorsterne an ihrer Schlafzimmerdecke. Sie nahm die Kamera mit zur Arbeit und fotografierte den Gang mit dem fahlen Licht, sich drehende Reagenzröhrchen, das Gittergestell, das im Stationszimmer auf sie wartete.
    Zu ihrer Überraschung gefielen ihr die Bilder, auch wenn sie manchmal nicht scharf waren oder Gegenstände nicht so zeigten, wie Ada sie gesehen hatte. Es war ihre Welt, der Teil davon, den sie mochte. Sechsundzwanzig wählte sie aus – so viele, wie sie Jahre alt war –, ließ sie vergrößern, kaufte passende Rahmen dazu und hängte sie in der Wohnung auf.
    ***
    Sie waren wieder da. Am Wochenende. Der Arzt und die Frau mit den Sommersprossen. Diesmal machten sie es andersherum. Die Frau lag unten, und er rieb seinen Körper auf ihr. Er war ganz nackt. Auf der Brust und den Schultern hatte er lauter dunkle Haare, zuerst dachte Ada, es wären Schatten. Immer wieder stieß er sich von dem Fußteil ab in sie hinein. Die Frau hatte ihren Kittel anbehalten, sonst war auch sie nackt. Ihre Kleidungsstücke lagen vor dem Bett auf dem Boden verstreut. Sie hatte ihre Beine um seine Hüften geschlungen und auf seinem Rücken verschränkt. Sie fasste ihn an den Seiten, als

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