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Sonntag bis Mittwoch

Sonntag bis Mittwoch

Titel: Sonntag bis Mittwoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Hayes
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wohl vergessen, daß du mich gleich anrufen wolltest?«
    »Anne, was sollte mir schon passieren –« Ich brach ab, als hinter mir ein leiser Pfiff Wilbys ertönte. »Was sollte mir schon passieren, es sind doch nur siebzig Meilen.«
    »Ha! Lies mal die Unfallstatistik!«
    Ihre besorgte Zuneigung rührte mich, erwärmte mein Herz: Einen Sekundenbruchteil lang tauchte ich getröstet aus dem Alptraum auf. »Mir geht's gut, Liebling.«
    »Na, ich muß schon sagen, daß es nicht danach klingt. Was ist denn mit deiner Stimme los?«
    Wilbys Pfeifen wurde lauter. Was wollte er – Anne unter allen Umständen auf sich aufmerksam machen?
    Ich räusperte mich – und die inzwischen auf meine Weichteile lokalisierten Schmerzen breiteten sich wieder aus. »Ich fürchte«, sagte ich, »ich habe einen Virus erwischt, oder so etwas.«
    Wilby hörte zu pfeifen auf, schnaubte, und Jenny kicherte. »Wahrscheinlich nur eine Erkältung. Pflege dich gut, Daddy. Ich komme mir hier so hilflos vor, und Mammy ist nicht da –«
    »Anne«, beruhigte ich sie verkrampft, während mit der Schweiß aus allen Poren drang, »du mußt dir langsam abgewöhnen, deinen Vater für einen klapprigen alten Mann zu halten –«
    »Das tue ich ja gar nicht«, protestierte sie. »Du bist für mich der bestaussehende, jüngste Mann, den ich –« Sie unterbrach sich. »Gleich nach Glenn, natürlich.«
    »Sag Glenn einen schönen Gruß, Anne. Es ist schon spät, und das Gespräch kostet zuviel.«
    »Vater! Hast du etwa getrunken? Ich meine … normalerweise tust du es ja nicht, aber –«
    »Na ja«, brummte ich, und wußte, daß ich wenigstens diesmal die Wahrheit sprach, »na ja, ein paar Gläser. Davon stirbt man nicht gleich.«
    Anne lachte. Es klang nicht so dunkel und spontan wie bei ihrer Mutter, aber jung und glücklich und erleichtert. »Ich finde das herrlich! Es ist ja keine Schande. Nur … ich wollte, es würde dich irgendwie fröhlicher machen.«
    Ich holte tief Atem, und der Schmerz durchzuckte mich messerscharf. »Ich bin sehr fröhlich«, entgegnete ich, »und außerdem müde. Wieviel Heiterkeit erwartest du um diese nächtliche Stunde?«
    »Schon gut, du brauchst nicht zu schimpfen. Es ist nur, weil ich …« Ich vernahm ein Seufzen. »Dann gute Nacht, Vater.«
    »Gute Nacht, Anne.«
    Ich legte den Hörer auf, blieb aber sitzen. Ich konnte einfach nicht aufstehen und mich umdrehen. Ich brauchte eine Zigarette – mußte unbedingt eine haben, dringender als je zuvor, seitdem ich aufgehört hatte zu rauchen. Ich wischte mir mit einem zusammengefalteten Taschentuch den Schweiß vom Gesicht und von den Handflächen.
    Ich hörte Jenny lachen – diesmal kein Kichern, sondern ein frauliches Lachen, tief aus der Kehle heraus. »Er ist keine Spur fröhlich. Der nicht!«
    »Teufel, Baby, wir sind alle vergnügt.«
    »Das behauptest du immer. Ich –«
    »Du hast keine Ahnung, Baby-Baby, du lernst nichts dazu. Es ist nicht alles, wie es scheint. Selbst Paps hier, aufrecht wie er ist, ist nicht nur ein Mann-Mann. Aber er gehört zu den anständigen Typen. Man muß die Familie beschützen, kapito, Paps?«
    Ich erhob mich und stellte mich ihm. Seine hellen, kalten Augen blickten ausdruckslos, unschuldig, aber in seinem Gesichtsausdruck und seiner Haltung lagen Verachtung.
    »Ich versuche, sie zu beschützen«, sagte ich. »Aber das ist nur bis zu einem gewissen Punkt möglich. Von da ab kommt es nicht mehr darauf an.«
    »Dich, Paps – dich willst du beschützen. Du willst nicht, daß dich deine kleine, shakespearische Anne für einen Roué hält. Würde dein Image verderben.« Wilby lachte. »Ödipus, Paps, kapito?«
    Diese Andeutung war abscheulicher als alle, die er an diesem Abend gemacht hatte. Mir fiel ein, wie ich das letzte Mal betrunken gewesen war – eines der wenigen Male in meinem ganzen Leben und zwar am Abend von Annes Trauung vor einem Jahr. Lydia hatte am nächsten Morgen etwas gesagt, was mich geärgert und erstaunt hatte. Sie sei nicht besonders überrascht –
    »Nicht alle haben so schmutzige Gedanken«, sagte ich. »Gottlob!«
    »Laß meinen großen Bruder aus dem Spiel. Er sieht Böses, hört Böses, tut Böses. Bloß helfen tut er gar nicht – gar nicht, weil ihm die verirrten kleinen Schafe wie du und ich scheißegal sind.«
    Shakespearische Anne, Ödipus, das Wort ›Roué‹, sein Gerede über Gott: Machte ich möglicherweise einen fatalen Fehler, wenn ich ihn für einen streunenden Ganoven, einen ungewaschenen

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