Sonst kommt dich der Jäger holen
hätte, wenn sie auf ihre innere Stimme gehört hätte, hätte sie das Entsetzliche vielleicht verhindern können, irgendetwas war ihr an dem Mieter seltsam vorgekommen – was bei ihresgleichen meistens genügte, um übersinnliche Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
»Schon wie er sich beworben hat, hab ich so ein komisches Gefühl gehabt. Aber ich habe ihm die Wohnung natürlich gegeben. Zahlt ja die Firma. Also, nicht, dass ich ihm unterstellt hätte, dass der ausschaut, als würde er die Miete nicht aufbringen, so was habe ich zum Glück noch nie erlebt. Aber so eine Firma im Rücken gibt einem doch ein besseres Gefühl. Der Herr Jensen, das war ein feiner Mann, sehr höflich, alles immer picobello, und die Mülltonnen hat er mir in den Hof gerollt, da hat sich nichts gefehlt.«
»Und wieso haben Sie ein komisches Gefühl gehabt?«, fragte Felix. »Hat er sich von irgendjemandem bedroht gefühlt? Hat er von Feinden gesprochen.«
»I wo! Des war um ihn rum. Wie eine Wolke. Es gibt doch Leute, die strahlen, und um andere ist es eher dunkel.«
»Freilich«, bestätigte Felix gänzlich ohne blassen Schimmer.
»Ja und er hat halt diese Last mit sich rumgeschleppt, und das hat man gesehen gegen den Wind.«
»Gegen den Wind, aha. Was für eine Last war das denn?«
»Das Heimweh. Also ich spür das ja gleich. Meine Eltern, die sind nämlich Heimatvertriebene. Da klingelt einer an deiner Tür und befiehlt: Morgen steigst du in den Zug nach Deutschland, und du darfst nicht mehr als eine Tasche mitnehmen. Dann zeigt er dir noch, wie groß die Tasche maximal sein darf. Wenn sie größer ist, darfst du gar nichts mitnehmen. Zur Strafe. Das kann man sich nicht vorstellen. Jedenfalls hab ich einen Blick dafür. Heimweh ist was ganz Schlimmes. Wenn man nicht da sein darf, wo man sein will. Das kann einem das ganze Leben versauen.«
»Gewiss«, sagte Felix und dachte, dass er auch ein Heimatvertriebener war in seiner Zweizimmerwohnung in der Rothmundstraße.
»Wie sah denn der Tagesablauf von dem Herrn Jensen für gewöhnlich aus?«
»Der ist früh aus dem Haus, oft vor sieben, und spät heimgekommen, nach zehn, und am Wochenende war er meistens gar nicht da.«
»Also ein sehr angenehmer Mieter.«
»Von mir aus hätte der öfter da sein können, weil, wenn er mal ein Wochenende geblieben ist, hat er mir geholfen mit dem Garten und überhaupt. Er hat mir viel erzählt aus seiner Heimat, das waren Lichtbildvorträge quasi. Aber was will man machen, gell. Wenn man an seinem Wohnort keine Arbeit findet, nützt alles nichts. Sicher, er hätte sein Haus verkaufen können und in eine Wohnung ziehen mit seiner Frau, dann hätte er nicht hier arbeiten müssen. Aber er hat immer zu mir gesagt, dass er ja keine Ewigkeiten hierbleibt. Der hat sich so reingehängt, der war sicher, dass er es nicht bis zur Rente hätte aushalten müssen.« Sie biss sich auf die Unterlippe und sah aufrichtig bekümmert aus. »Und das muss er jetzt ja auch nicht mehr.«
»Hat er Besuch gekriegt?«
»Nie.« Sie stockte. »Also, nicht, dass ich wüsste.«
»Und wenn Sie doch wüssten?«
»Ich weiß nix.«
»Ist Ihnen sonst irgendwas aufgefallen, es kann eine Kleinigkeit gewesen sein?«
Frau Wolfram schüttelte ihren Kopf so heftig, dass die grauen Locken flogen.
»Was hat er für Hobbys gehabt?«
»Natur. Umwelt. Heimat. Aber aktiv hat er bei uns natürlich nichts gemacht. Er hat ja nie Zeit gehabt. Das ist schade; ich hätte ihm auch hier schöne Plätze zeigen können. Aus der ganzen Welt kommen Touristen zu uns ins Fünfseenland. Sogar Indianer waren schon da. Aber er wollte sich hier gar nicht verwurzeln. Und das habe ich auch verstanden. Er hat mir ausgerechnet, wie viel Öl ich spare mit einer neuen Pumpe, und mir eine Firma gefunden, wenn ich Solar aufs Dach mache. Das war ihm wahnsinnig wichtig. Für ihn selbst war das ein Dilemma, dass er häufig fliegen musste. Er hat immer gesagt: Jeder soll bei sich selbst anfangen.«
»Ist die Wohnung jetzt ausgeräumt?«
»Ja. Das hat seine Frau gemacht mit ihrem Schwager. Der ist ihr eine große Stütze. Und es waren auch mal ein paar Freunde da. Die wollten wissen, wo er gewohnt hat. Die hat es innerlich förmlich gedrängt, das habe ich gemerkt. Verabschieden wollten sie sich vor Ort. Das war schon traurig und aufwühlend, auch für mich. Ich habe mir gedacht, ich sollte mich mal wieder bei meiner Schwester melden. Letztlich bleibt einem doch nur die Verwandtschaft. Aber wissen Sie, also
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