Sophia oder Krieg auf See
Elfenbeinmöwen. Oder die eine Elfenbeinmöwe, das konnte Corin nicht so genau sagen. Aber auch die Möwen waren bisher nicht erfolgreich gewesen. Und würde der junge Giles in Zukunft eine grinsende Elfenbeinmöwe mit einer Zwiebel, einer Wildmöhre oder einem geblümten Damenkleidchen im Schnabel sehen, wäre er vorbereitet und würde sich nicht kampflos seinem Schicksal ergeben.
Broklas kam an Deck und passierte den Käfig. »Guten Morgen, Corin«, brummte Broklas missmutig, blieb stehen, ließ den Blick über das Deck schweifen und trommelte mit den Fingern auf Corins Gefängnisdeckel herum.
»Guten Morgen, Broklas«, erwiderte Corin weit weniger missmutig, »was machen die Experimente?«.
Ohne den Jungen anzusehen, winkte Broklas ab. Er hasste es, seine schlechte Laune an anderen auszulassen und hatte nicht vor, heute damit anzufangen. Dass diese Entscheidung durch und durch verlogen war, machte Broklas nur noch schlechtlauniger, denn in der Praxis ließ er seine schlechte Laune regelmäßig an seinen Mitmenschen aus. Vielleicht gab es ja aber ein paar Karmapunkte für den guten Willen.
Das karge Hochland und die Berge seiner schottischen Heimat kamen Broklas in den Sinn. Die alte Hütte im Great Glen, in der er mit seinen Brüdern, Schwestern und Eltern aufgewachsen war. Der Bürgerkrieg, die ewigen Fehden der schottischen Lords um Vorherrschaft, der Überfall, der Tod seiner Familie, die Aufnahme durch einen englischen Mönch, die Reise durch Europa, Studium in Prag, der Ruf an den dänischen Hof als Margaretes Lehrer, die Reise –
»Schiff backbord 61 voraus«, brüllte der Ausguck auf das Deck herunter, »Schiff backbord voraus«.
Broklas‘ Blick wurde jetzt erst richtig finster. »Oh nein«, murmelte er, während Corins Blick hektisch von einer Seite des Schiffes zur anderen huschte, »nicht schon wieder«.
*
Das große Frachtschiff kämpfte sich mühsam unter halbem 62 Wind durch die See, während der Rote Rabe mit nahezu achterlichem 63 Wind leicht geneigt, aber flott durch die Wellen schnitt.
Es dauerte nur wenige Augenblicke und die gesamte Besatzung des Raben hatte sich an Deck versammelt. An die 60 Piraten lugten neugierig über die Reling, bemüht, durch entsprechende Deckung nicht zu viel Aufsehen aus der Ferne zu erregen.
Kapitän Claas schwang sich mit zwei Sätzen die Außentreppe vom Hauptdeck auf das Achterdeck hinauf, wo der Steuermann an der Ruderanlage stand. Ole folgte ihm dicht. »Was ist das für ein Kahn«, brummte Claas und peilte das fremde Schiff am Horizont an. Der blonde Hüne nahm seinen Zeigefinger auf Kopfhöhe und führte ihn eine handbreit an das rechte Auge heran. Als er nun dicht an seinem Finger vorbei in Richtung fremdes Schiff schulte, halfen Beugungseffekte das eine oder andere Detail zusätzlich zu erkennen 64 . Ole hatte es ihm bereits nachgetan.
»Ein Frachter, würde ich sagen«, mutmaßte die Nummer zwei an Bord. »Ich kann keine Flagge erkennen«, murmelte Claas weiter vor sich hin und ließ das fremde Schiff keinen Moment aus den Augen. Ole fing an zu grinsen und als sein Blick den von Claas suchte, reckte sich sein Kopf nach vorne wie der einer Schildkröte. »Holen wir uns den Eimer«, bat er seinen Kapitän, der immer noch unentschlossen wirkte. »Der Wind ist perfekt«, grummelte Claas vor sich hin, ganz so, als wolle er sich selbst überzeugen. Dann drehte er sich einmal in die Runde und rief, »Los, schnappen wir uns den Kübel!«.
Die Bande jubelte kurz auf und schon stieben die Piraten auseinander wie Ameisen vor einem hungrigen Erdferkel. Es dauerte keine zwei Atemzüge, da waren die ersten Seeräuber schon wieder mit Schwertern und Armbrüsten an Deck, während andere sich hoch hinauf in die Wanten 65 Richtung Mastspitze und Segel machten.
Corin saß in seinem Käfig und umklammerte die Gitterstäbe so fest, dass die Knöchel seiner Hand hell durch die Haut schimmerten. Hatte er die Piraten seit seiner Entführung bisher nur als einen ziemlich müden Haufen erlebt, zeigte sich nun ihre ungestüme Kraft. Ohne dass Claas oder Ole noch Befehle geben mussten, arbeitete jeder Mann emsig an der ihm irgendwann einmal zugeteilten Aufgabe. Ein perfekt eingespieltes Team.
Broklas bahnte sich einen Weg durch das quirlige Treiben an Deck. Er hatte ein seltsames Gerät bei sich, das aus mehreren Bronzescheiben, Achsen und Zahnrädern bestand. Ohne es zu wagen die mysteriöse Maschine in diesem Tohuwabohu abzustellen, bugsierte er eine zwei Fuß breite
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