Sophie Scholl
»Es ist sehr möglich, dass ich schwach bin.«
Was soll am stundenweisen Alleinsein so rücksichtslos sein? Tut das nicht jeder Beziehung gut? Erst die Fortführung ihres Gedankens am 9. November zeigt, dass Sophie Scholls Ideal sich nicht allein auf äußere Umstände bezieht, sondern innere Sprengkraft besitzt: »Es ist schön, wenn zwei miteinander gehen, ohne sich zu versprechen, wir treffen uns da und da wieder, oder wir wollen immer beieinander bleiben. Sie gehen so einfach ein Stück zusammen, und wenn es sich gibt, dass sich ihre Wege trennen, so geht jedes in seiner Richtung so ruhig weiter.« Es ist, als ob Sophie Scholl eine Türe nach der anderen öffnet und immer tiefere Blicke in ihr Inneres frei gibt. Dazu gehört auch der verwirrende Satz: »ich hab nie jemanden gerner gehabt als Dich, außer mir selbst«. Sie erklärt sofort, was sie damit meint, und stellt zugleich die höchste Hürde auf für ein harmonisches Zusammensein: »Ich kann mich nicht aufgeben für Dich. … Du denkst, das soll sie ja gar nicht. Aber im Grunde müsste sie es eben doch. Um gerade zu sein.« Da ist sie wieder, die Vorgabe der Eltern Scholl für ihre Kinder – gerade und frei durchs Leben zu gehen. Mit dem Krieg hat Sophie Scholl endgültig den Trennungsstrich zu den braunen Machthabern und ihren Zielen gezogen, die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus ist besiegelt. Am »Geradesein« aber hält sie fest. (Geht sie auch deshalb weiterhin wöchentlich zum »Dienst« in die Heimabende des BDM?)
Wie konsequent ihr Verstand auch die Positionen darlegt, auf denen Sophie Scholl gegenüber Fritz Hartnagel besteht, ihr Gefühl signalisiert ihr, dass Klarheit allein nicht glücklich macht. Sehnsüchte melden sich, die mit Nähe und Wärme zu tun haben und mit dem Menschen Fritz Hartnagel, mit dem sie beides in schönen Stunden erlebt hat. Er soll wissen, dass ihr diese Erfahrungen kostbar sind – »mich reut gar nichts, was wir miteinander verlebt haben«. Trotzdem fühlt sie sich schuldig, weil sie erst jetzt ausspricht, was sie sich in Gedanken schon tausendmal gesagt. Und ehrlich gesteht sie ihm: »Ich fürchtete mich vor der Leere, die darauf folgen würde, ich fürchtete mich vor dem Verzicht auf Wärme, der es für mich wäre.«
Freundschaft, nicht Liebe. Am 5. Januar 1940 formuliert Sophie Scholl deutlich, worum es ihr geht: »Nein, ich glaube, dauernde Nähe von Dir macht mich schwach. Ich vergesse dann, dass ich nicht nur ein Mädchen sein möchte. … Ich weiß, dass es Schwäche ist, und wenn ich Dir jemals nachgeben sollte, so sollst Du wissen, dass ich in dem Augenblick schwach bin, und so viel oder so wenig wie viele Mädchen, die Du und ich nicht sehr hochschätzen.« Im gleichen Atemzug hofft sie auf ein baldiges Wiedersehen. Am Ende wieder dunkle Ahnungen: »… manchmal habe ich Angst, Dir das nicht geben zu können, was Dir zusteht, oder was Du verlangen könntest. … oft glaube ich, ein andres Mädchen wäre Dir ergebener wie ich. Verstehst Du? Dies kann und will ich nicht … Schreibe mir recht viel von Dir. Und oft! Gelt? Sofie.« Im Konflikt von Verstand und Gefühl behält der Kopf längst nicht immer die Oberhand.
Zehn Tage später versucht sie gegen Ende ihres Briefes die Widersprüche einzuebnen, einem Entweder-Oder auszuweichen. Wieder bittet sie Fritz Hartnagel dringlich, ihr oft zu schreiben, »damit wir als Menschen uns nahe bleiben«. Wieder hofft sie auf ein Wiedersehen und signalisiert, dass für sie der Verzicht auf intime körperliche Nähe herzerwärmende Berührungen nicht ausschließt: »Und wenn Du müde bist, sollst Du meine Hand in der Deinen halten, und Deinen Kopf an meine Schulter legen.« Es ist das gleiche Muster, nach dem sie im August 1938 ihre Beziehung gestalten wollte. Damals funktionierte es knapp zwei Monate. Und wie reagiert Fritz Hartnagel auf die Wechselbäder aus Analyse und Emotionen? Auf das angekündigte Ende ihrer bisherigen Beziehung? Vor allem mit der Bereitschaft, auf ihre Vorstellungen einzugehen – »fühle Dich nicht an mich gebunden, sei rücksichtslos«. Nur wenige Male begehrt er auf, fragt bitter, warum er noch schreiben soll und wozu ein Wiedersehen – »ich verstehe Dich nicht«. Für ihn war bisher »alles Frühling und glücklich und schön«. Fritz Hartnagel akzeptiert die Forderung nach freundschaftlicher Nähe. Nur um eines bittet er: »Aber wir dürfen nicht von Schuld reden.«
Um diese Zeit schreibt Sophie Scholl einen Brief an Lisa Remppis,
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