Sophie Scholl
Hartnagel Sophie Scholls kritische Sicht auf die politische Lage nicht mehr los. Am Jahresende 1939 wird er von einem »Fortschritt« schreiben, »wenn man das bisher erlernte als falsch erkennt und deshalb über den Haufen wirft«. Und wieder freimütig hinzufügen: »woran nicht zuletzt, oder überhaupt, Du schuld bist«.
Sophie Scholls Alltag bestand nicht nur aus Briefeschreiben, und war er im Krieg wirklich so viel anders als im Frieden? Der größte Unterschied betraf die Schule: Obwohl das letzte Halbjahr vor dem Abitur anbrach, endeten die Sommerferien erst in der letzten Septemberwoche, und am 6. Oktober begannen schon wieder die Herbstferien. Mathematik und Physik fielen aus, weil die Lehrer im Feld standen. War Unterricht, versuchte Sophie Scholl, das bisher aus fehlendem Interesse Vernachlässigte durch Fleiß aufzuholen. Das war gar nicht so leicht, denn die Mutter verlangte eine Menge an Hausarbeit von ihrer Jüngsten. Fensterputzen, Große Wäsche, Wäsche nähen – es war immer etwas zu tun, Tischdecken und Spülen ohnehin. Und immer wieder stahl sie sich Zeit für den Auftrag, den Hanspeter Nägele ihr im Frühjahr gegeben hatte: »Peter Pan und die andre Illustration mache ich natürlich fertig, denn ich sehe nicht ein, warum man im Krieg nur die grausig ernstesten Dinge tun darf.« Und fährt fort: »Wo doch bei uns sowieso nicht viel vom Krieg bemerkt wird, außer dass man eben nicht so in Fett schwimmt …« Das war am 19. September 1939 und spiegelt die Lebensqualität, der sich die deutsche Bevölkerung in der Heimat – trotz oder besser: gerade wegen des Krieges – erfreute. Genau genommen schwamm sie sogar im Fett.
Adolf Hitler, vier Jahre Soldat im Ersten Weltkrieg, hatte nicht vergessen, wie elendig damals das Los von Millionen Familien war, weil der Ernährer als Soldat im Feld stand. Statt des Arbeitseinkommen gab es Almosen vom Staat, zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Vor allem der Hunger während der Kriegszeit war unvergessen. Wollte Hitler seinen Krieg durchziehen, musste die Heimat bei Laune gehalten werden, durfte nicht darben. An diese Überzeugung hielt er sich eisern. Zwar wurden am 28. August 1939 mit der »Verordnung zur vorläufigen Sicherung des lebenswichtigen Bedarfs des deutschen Volkes« Lebensmittelkarten für Nahrungsmittel und Bezugsscheine für Bekleidung eingeführt, die seit dem Frühjahr in den Panzerschränken der Rathäuser lagen. Mit dieser Rationierung sollte eine gleichmäßige Verteilung garantiert und das Hamstern erschwert werden, was längst nicht immer klappte und während der Kriegsjahre zu Engpässen führte. Aber der alleinige Blick auf diese greifbaren Einschränkungen verzerrt das Bild gehörig.
Am gleichen Tag wie die Rationierungen wurde das Einsatz-Wehrmachtsgebührnisgesetz erlassen. Es garantierte Familien, deren Angehörige bei der Wehrmacht dienten, einen staatlichen Familienunterhalt, der sich am Einkommen in Friedenszeiten orientierte. Hinzu kamen jede Menge Beihilfen für Miete, Ratenzahlungen, Zeitungsabonnements und Lebensversicherungen, um den »Besitzstand« aufrechtzuerhalten, den die Familien sich im Frieden erarbeitet hatten. Das Ziel dieser staatlichen Wohltaten war die »Erhaltung von Wehrwillen und Wehrfreudigkeit« und die »Sicherung der inneren Front«. Die kommunalen Ämter erhielten die Anweisung, die Angehörigen der an der Front kämpfenden Soldaten »mit größtem Verständnis« zu behandeln. In vielen Haushalten war mit dem Kriegsbeginn mehr Geld in der Haushaltskasse als zuvor, und bald flossen zudem die Güter aus den besetzten Ländern nach Deutschland. Außerdem durfte bei Einberufenen und deren Familien nicht mehr gepfändet werden, und der Mieterschutz wurde deutlich verbessert.
Überhaupt ging das Leben weiter wie bisher, bei den Scholls sogar immer noch ein wenig besser, und alle in der Familie waren gewohnt, eine Menge in ihr Leben zu packen. In der weitläufigen Wohnung am Münsterplatz wurden Ende September für 400 Reichsmark Bücherregale eingebaut, und Inge Scholl erfüllte sich endlich einen Wunsch: ein Blüthner-Flügel wurde angeschafft. So konnte man in der Diele Konzerte geben. Das erste schon am 23. September für Cello und Klavier, da die Familie gute Beziehungen zum Ulmer Stadttheater hat. Sophie ist sich der widersprüchlichen Situation bewusst. »Es tut mir leid«, schreibt sie Fritz Hartnagel, »ich komme mir ganz ungerecht vor, wenn wir dies alles noch genießen können, während
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