Sophie Scholl
ihr dauernd in Gefahr seid und nichts dergleichen habt. Hoffentlich nehmt ihr uns das nicht übel.« Ende Oktober schildert sie das Familien-Idyll am runden kleinen Tisch im Wohnzimmer: Es gibt Tee, Hefekranz mit Rosinen, auf den »sogar noch Gesälz geschmiert« wird, »Marmelade« auf Schwäbisch. »Du siehst, noch ganz wie in Friedenszeiten. Hoffentlich geht Dir nichts ab.« Sophie Scholls schlechtes Gewissen war nicht im Sinn der Machthaber. Sie setzten mit Erfolg auf die umgekehrte Wirkung: Die Soldaten an der Front waren beruhigt, dass es den Lieben daheim gut ging und an nichts fehlte.
In den drei Ulmer Kinos lief alles weiter wie bisher. Für Propagandaminister Joseph Goebbels war der Film ohnehin ein »Erziehungsmittel des Volkes«, und gerade Unterhaltungsfilme sollten das Volk »in seinem Lebenskampf stärken« und vom Krieg ablenken. Auch zu Aufführungen im Saalbau oder in der mittelalterlichen Dürftigen Stube gingen die Scholls weiterhin. Alle Konzerte wurden von der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde organisiert, die namhafte Solisten für Ulm gewinnen konnte. Für Sophie Scholl blieb die Musik Lebenselixier. Keine Klavierstunde ließ sie aus, beim Üben wurde sie nicht müde, immer waren unter ihren Geschenken auch Partituren – zu Weihnachten 1939 Händel-Orgelkonzerte vierhändig, Walzer und ungarische Tänze von Brahms und Inventionen von Bach.
»Spielst Du noch gerne Bach«, fragt sie Lisa Remppis im Januar 1940. »Er bedeutet für mich immer mehr, ich finde, er ist der beste Erzieher. Andere berauschen, sie heben einen weg in Gefühle. Bei Bach aber muss man große Beherrschung zum Spiel und zur Klarheit aufbringen; der Lohn ist, dass man dabei selbst klar, und das schließt ja beherrscht ein, wird. Ich glaube, ich könnte ihn kaum entbehren.« Klarheit: nichts taucht so oft auf in Sophie Scholls Briefen als Maßstab eigenen Handelns, als Wegmarkierung, als Lebensziel. »Ich möchte ja nichts andres als Klarheit«, schreibt sie Fritz Hartnagel am 15. Januar 1940. Ihre Korrespondenz dreht sich seit vielen Wochen um ihr Verhältnis zueinander. Sophie Scholl hat Ende Oktober 1939, als der Feldzug in Polen abgeschlossen ist und im Westen, wo sich Fritz Hartnagel befindet, alles ruhig bleibt, dieses Thema angestoßen. Als ob die Klarheit, mit der sie seit Ausbruch des Krieges politische Dinge ausspricht, auf ihre persönliche Situation wie eine Rückkoppelung wirkt: Sie fordert eine andere Art der Beziehung. Vielleicht spielen auch die wenigen Tage Mitte Oktober, als Fritz Hartnagel in Ulm auf Urlaub und mit ihr zusammen war, eine Rolle.
Diese gemeinsamen Tage müssen wieder für Monate herhalten. Wo bis Ende August 1939 fast jedes Wochenende viel Nähe brachte, in Ulm, mit Autofahrten oder Wanderungen und viel Zeit für Gespräche und gemeinsames Schweigen, trugen nun ausschließlich geschriebene Worte die Last der Kommunikation. Missverständnisse bleiben nicht aus, Unklarheiten und die Furcht, mit Worten zu verletzen. Trotzdem bestätigen sich Sophie Scholl und Fritz Hartnagel immer wieder, nicht aufzugeben in ihrem Ringen um Klarheit. Sie machen ständig neue Anläufe, die eigenen Gefühle zu Papier zu bringen und zugleich die Sicht und die Empfindungen des anderen richtig zu deuten. Sophie Scholl ist die aktive, die antreibende Kraft. Aus drei Monaten Korrespondenz zwischen Ende Oktober 1939 und Ende Januar 1940 lassen sich bei allen Widersprüchen und Unfertigkeiten, die Sophie Scholl durchaus bewusst sind, auf ihrer Seite zwei Schwerpunkte hervorheben.
Alleinsein. Vergnügt malt Sophie Scholl am 29. Oktober aus, wie sie zusammen mit Fritz ein paar Tage in gemieteten Räumen genießt – gewürzt mit einem ironischen Schlenker: »Und das, was wir zum Essen brauchten, könnte ich kochen. (Eine nette Illusion).« Um dann abrupt das Gegenteil zu beschwören: »Aber nur einige Tage, denn allzulange halte ich’s mit einem einzigen Menschen nicht aus. Versteh mich nicht falsch! Aber wenn man mit nur einem Menschen verkehrt, übt dieser einen zu großen Einfluss aus. … Sobald jemand Ansprüche stellt, werde ich, glaube ich, sehr empfindlich.« Weiter geht es mit der Überzeugung, es gebe Stunden des Alleinseins, »die wiegen alle Tage auf, in denen man sich gesehnt hat nach einem Menschen.« Sophie Scholls Schlussfolgerung: »Dann erscheint das Rücksichtslose (versteh das Wort nicht falsch) als das Wahre und Mitleid als Schwäche.« Der Blick auf sich selbst ist ebenso rücksichtslos:
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