Sophie Scholl
Dein Gemälde gefreut hat (ich sehe es immer wieder an) – und wie gut mir Dein Brief getan hat. Ich weiß nicht warum, aber diesmal war mir nach Ernst’s Abreise ganz seltsam kleinmütig im Herzen. Abschied war sonst kein Begriff für mich. Nun ist er plötzlich einer geworden, aber erst, nachdem es geschehen war. Ich habe ein Heimweh, gegen das ich mich immer wieder ganz energisch wehren muss. Du Sofie, darfst es ja ruhig wissen.« Heimweh nach dem geliebten Menschen. Das war Sophie Scholl nicht fremd. Doch seit dem Sommer 1940 versuchte sie mit aller Kraft, sich von solchen Gefühlen zu lösen.
HART WERDEN – KIRCHENVATER AUGUSTINUS TRIFFT EINEN NERV
April bis Dezember 1940
Noch einmal der Blick zurück in das Frühjahr 1940. Am 10. Mai gehörten Fritz Hartnagel und seine Einheit zu den Truppen, die Deutschlands westliche Nachbarn überfielen. Nach dem Marsch durch die Niederlande ging es durch Belgien; am 26. Mai war die französische Grenze überschritten. Innerhalb von sechs Wochen würde Frankreich von den deutschen Truppen vernichtend geschlagen sein. Für Fritz Hartnagel bedeuteten die ersten Kriegswochen: zerstörte Städte, tote Soldaten und Zivilisten, Kolonnen von hungrigen und deprimierten Flüchtlingen und Gefangenen. Einmal entkam er nur knapp einer tödlichen Mine. Jede Nacht in einem anderen Quartier, tagsüber geht es im Marschschritt immer tiefer hinein in ein fremdes Land.
In Ulm dagegen herrscht Frieden. Die schöne Wohnung am Münsterplatz, der Unterricht im Fröbel-Seminar mit den praktischen Stunden im Kindergarten, Klavier- und Zeichenstunden, Wanderungen an den Wochenenden – Sophie und Fritz leben in zwei verschiedenen Welten. Es hat eine innere Logik, dass in dem Augenblick, als Sophie Scholl das Unrechtssystem des Nationalsozialismus benennt und sich ermahnt, gegenüber dem Bösen nicht die geistigen Waffen zu strecken, sie schärfer als je zuvor ausspricht, wie sehr der Berufsoffizier Fritz Hartnagel mit diesem System verbunden ist. Und den tiefen inneren Riss in ihrer Beziehung beim Namen nennt.
16. Mai 1940. Sophie Scholl bedauert in ihrem Brief, dass der überraschende Geburtstagsbesuch von Fritz Hartnagel am 9. Mai in Ulm nur einen Tag dauerte: »Überhaupt hätte ich Dir zu erzählen und zu sagen gehabt, was ich Dir alles nicht schreiben kann. Denn unsre Gedanken sind so verschieden, dass ich mich manchmal frage, ob dies denn so nebensächlich ist, was doch eigentlich eine Grundlage für Gemeinschaft sein sollte.« Doch schnell schiebt sie ihre schwerwiegende Kritik beiseite: »Denn nun, da Du und ich nicht der Freundschaft und der Kameradschaft bedürfen, sondern der Liebe, nun ist es wirklich Nebensache.« Ist damit alles wieder in Ordnung? Ein Satz folgt noch, und der hat es wiederum in sich: »Wir wollen uns so halten, bis wieder Zeiten kommen, wo wir wieder allein stehen können.«
Es braucht lange, bis Fritz Hartnagel auf diese Zukunftsperspektive von Sophie Scholl reagiert, zumal in den zahlreichen Briefen Sophies so viel Schönes steht, das ihm die traurige, blutige Gegenwart des Krieges erträglicher macht: Sie sei in Gedanken viel bei ihm, das müsse er doch spüren; sie wünscht sich ein Foto von ihm, das sie immer bei sich tragen kann, und sei es in Uniform, die ihr manchmal »fremd, ja wie gegensätzlich« ist. »Ich denke immer an Dich« – wie oft konnte er diesen Trost lesen. Endlich, am 8. Juni, irgendwo in Nordost-Frankreich, kommt Fritz Hartnagel auf Sophie Scholls Frage vom 16. Mai zurück: »… ich glaube, dass unser Denken nicht so verschieden ist, wie es manchmal den Anschein haben mag.« Er nimmt die Schuld auf sich, dass dieser Eindruck entstehen konnte. Er vertrete bei ihren Diskussionen manchmal die Argumente der Gegenseite, weil sie Teil der Welt sei, in der er täglich lebe und mit der er sich auseinandersetzen müsse: »Du brauchst deshalb nicht glauben, dass ich anders denke wie Du. Ich will ja auch nur wie Du, das Wahre und Gerechte und das Gute und ich glaube wie Du, dass das Erreichen eines höheren Lebensstandards und einer uneingeschränkten Machtausübung nicht das Letzte sein kann.« Der Krieg sei für ihn eine verlorene Zeit, da sie ihn nicht weiterbringe, eine moderate, selbstkritische Antwort.
Nirgendwo in diesen Wochen von Fritz Hartnagel ein Wort, das den Krieg verherrlicht, ihm einen Sinn zu verleihen sucht. Noch am Tag, als Paris erobert wird, hofft er, dass der Krieg bald zu Ende geht. Nicht nur, damit sie wieder zusammen
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