Sophie Scholl
sie wie für alle Geschwister blieb die Familie lebenslang der feste Grund. Sie fühlte und spürte: Hier war sie von bedingungsloser Liebe, Zuneigung und Fürsorge umgeben.
Forchtenbergs mächtige dreistöckige Fachwerkhäuser mit den breiten roten Dächern und hölzernen Arkaden ließen die vergangenen guten Zeiten kaum noch ahnen. Das Würzburger Tor, heute ein barockes Schmuckstück in hellem Gelb und Weiß, 1604 von dem Bildhauer Michael Kern erbaut und seiner Heimatstadt Forchtenberg geschenkt, war dem Verfall nahe. Nach jedem Regen klatschte das Wasser ungeschützt von den Dächern, stürzte durch die abschüssigen, engen Gassen, drängte in Häuser und Keller und riss die Straßen auf, denn es gab keine Kanalisation. Nur die Kinder mit ihren Stelzen hatten Vergnügen an so viel Rückständigkeit.
Als Familie Scholl Ende 1919 nach Forchtenberg kam, musste sie die Postkutsche nehmen. Der Ort war an kein anderes Verkehrsmittel angeschlossen. Die Straßen und damit die Kommunikation zur Außenwelt zu verbessern, gehörte zu Robert Scholls Prioritäten. Im Frühjahr 1921 kam die Postkutsche zum letzten Mal. Die Straße nach Öhringen war so verbreitert und befestigt worden, dass von nun an täglich das Postauto diese Strecke befuhr. 1922 erhielt die Stadt endlich Kanalisation.
Das Jahr 1923 war geprägt von den Auseinandersetzungen im Gemeinderat um den Bau einer Eisenbahnlinie, die Forchtenberg mit Künzelsau verbinden sollte. Robert Scholl war entschlossen, die Stadt mit dem Bahnhof an den Fortschritt und die moderne Zeit anzuschließen. Im Juni 1924 war die Anzeige im Hohenloher Boten unübersehbar, die zur »Bahn-Einweihung« über das Wochenende am 21./22. einlud. An beiden Tagen gab es auf dem Kocherwasen ein »Konzert der Stadtkapelle … sowie für die Jugend Schiffschaukel und Karussell«. Sonntagmittag spielte der »Jünglings-Verein« auf der Burganlage oberhalb der Stadt Goethes »Götz von Berlichingen«. Es war ein Tag der Genugtuung für den Ortsvorsteher, und Robert Scholl zeigte sich spendabel. »Da ich weiß, wie oft die Forchtenberger Uhren nachgehen, sorgte ich aus Privatmitteln bei der Bahneröffnung für eine Bahnsteiguhr, die gerne jedem genaue mitteleuropäische Zeit angibt«, formulierte es Robert Scholl 1929 in seiner Bilanz. Und wird es ähnlich schon 1924 seinen Forchtenbergern unter die Nase gerieben haben.
Am 9. Mai 1924 war Sophie Scholl drei Jahre alt geworden. Gut möglich, dass die umfangreichen Feiern zur Einweihung von Bahnhof und Bahnlinie im Juni zu ihren frühesten aushäusigen Erinnerungen gehören. Bei dieser Feier und den vielen folgenden, die sie in Forchtenberg miterlebte, war unübersehbar, dass der Vater nicht war wie alle anderen. Die Menschen hörten ihm zu, und am Ende klatschten alle. Wenn die Feuerwehr ihren Umzug hielt, wenn auf dem Burgplatz ein Feuerwerk stattfand oder vor der Kulisse der Burgruine Theater gespielt wurde, wenn die Turner ihr Schwimmfest eröffneten, wenn in der Kirche ein Konzert gegeben wurde oder das jährliche Kinderfest mit seinem Umzug die Gassen füllte: immer war der Vater mit an der Spitze, ein stattlicher Mann im dunklen Anzug; Robert Scholl legte Wert auf gute Kleidung. Wo er stand, hielten die Menschen ein wenig Distanz. Es war etwas Besonderes um ihn, wenn Sophie Scholl ihren Vater außerhalb der Rathaus-Wohnung erlebte. Mit dem Vater verband sich der sichtbare Eindruck, dass seine Arbeit die Welt schön und angenehm machte.
Mittags, wenn er zum Essen kam und alle in der Diele um den großen Tisch saßen, war er ganz nah. Er erzählte, er fragte seine Kinder, alle durften mitreden, locker ging es zu. Doch Robert Scholl konnte auch unvermittelt aufbrausen, dann fielen laute Worte. Manchmal musste er sich Frustrationen und Amtsärger von der Seele reden. Ohne Genaues zu verstehen, spürten die Kinder, dass der väterliche Zorn den Forchtenbergern galt, für die er so viel arbeitete, so viel Gutes tat.
Ob den Kindern auffiel, dass manchmal die Mutter mit einer sachlichen Frage, einer nüchternen Zwischenbemerkung den Vater zurückholte auf den Boden der Realitäten? Nicht nur, wenn er sich ärgerte, auch wenn er einen Gedankenflug angetreten hatte, bei dem eine visionäre Idee die andere überbot. Lina Scholl war für die Kinder die beständige Mitte im Familienkosmos, und zugleich erlebten sie ihre Mutter als eine aktive Frau, die oft und gerne außerhalb des Hauses tätig war.
Ihre Leidenschaft war der Garten. Ein kurzer Weg
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