Sophie Scholl
die an ihn glauben, fallen nicht aus seiner Gnade.
Im Herbst 1926 bewarb sich Robert Scholl um die Schultheißen-Stelle in Künzelsau, dem Heimatort seiner Frau. In seinen späteren Lebensläufen erwähnt er nichts davon. Der Beweis und ein Hinweis auf das Motiv finden sich in den Akten des Oberamtes Öhringen, der vorgesetzten Dienststelle für den Ortsvorsteher von Forchtenberg. Ein Schreiben vom Oktober 1926 erklärt, »Stadtschultheiß Scholl beabsichtigt, sich um die Stadtvorstandsstelle in Künzelsau zu bewerben, um in einer größeren Stadt mit weiterem Wirkungskreis tätig sein zu können«. Der Beamte aus dem Oberamt fährt fort: »Ich halte ihn zur Versehung des Ortsvorsteherdienstes auch in einer größeren Stadtgemeinde für befähigt.« In Künzelsau wurde ein anderer gewählt; Robert Scholl wird das gewurmt haben. Der Fünfunddreißigjährige war ehrgeizig, und natürlich hat sich die Wahlniederlage im Städtchen herumgesprochen.
Die Kinder dagegen hatten Wurzeln gefasst. Inge und Hans gingen in die evangelische Volksschule; Liesl und Sophie tippelten die Hauptstraße entlang und durchs Brunnentor hinaus zur Diakonieschwester Rosa in die Kleinkinderschule von Forchtenberg. Und die war durchaus etwas Besonderes. Gegründet 1832 von einem evangelischen Pfarrer als »Spielschule« für Drei- bis Sechsjährige zur »Erleichterung für Eltern mit Berufsgeschäften«, war es der zweite Kindergarten im Königreich Württemberg überhaupt.
Diakonisse Rosa betreute um die siebzig Kinder. Der Morgen begann mit Gesang, begleitet vom Tisch-Harmonium. Biblische Geschichten wurden erzählt, die Kinder lernten, still zu sitzen, nicht zu schwätzen. Aber es ging auch zum Spielen hinaus ins Freie, auf die Rutsche oder in den Sandkasten mit Schaufel und Förmchen. Und im Höfle konnte man am Brunnen Wasser für die Sandburgen schöpfen. Die Kleinkinderschule erweiterte Sophie Scholls Horizont. Überhaupt kam sie in das Alter, wo die älteren Geschwister sie in manche ihrer Spiele einbezogen, vor allem, wenn es um Feste und Feiern ging, die dem Jahresablauf Gestalt und Bedeutung gaben.
Im Schulaufsatz, der vom »Bad am Samstagabend« erzählt, hat die achtzehnjährige Sophie Scholl auch festlich-aufregende Ereignisse beschrieben, die ihre Forchtenberger Kindheit prägten. Vor dem Osterfest kam die »große Putzerei«, alles musste blitzblank sein. Am Ostersonntag hatten die Kinder Schokoladenhäschen, Zuckerzeug und jedes eine kleine Extra-Überraschung auf dem Frühstücksteller. Dann ging es hinaus zum Nestersuchen: in den benachbarten Pfarrgarten und den Weg hinauf zur Burgruine, wo im Efeugestrüpp an der alten Burgmauer hier ein Ball, dort eine Apfelsine und eine Menge Ostereier versteckt waren. Es folgte das »Eierandotzen«: Mit anderen Kindern traf man sich auf einer moosigen Wiese und warf die Eier hoch in die Luft. Wer am Ende die meisten unbeschädigten Eier vorzeigen konnte, war Sieger. Manchmal führten die Scholl-Kinder ein Osterhasenspiel auf. Einmal blieb Werner bei seinem Auftritt stecken, zupfte Sophie »in ratloser Verlegenheit« an ihrem künstlichen Schwanz und fragte: »Weißt du weiter?«
Im schönen Monat Mai wurde Hochzeit gespielt, von den kleinen Leuten im Kindergarten oder von den Scholl-Kindern mit den befreundeten Pfarrerskindern im Pfarrgarten. Im Herbst stand mit dem Erntedankfest das Kartoffelfeuer auf dem Programm. Je stärker es qualmte, um so schöner. Die Kartoffeln schmeckten nach Rauch und Erde; das war etwas anderes als der Milchbrei, den es zu Hause gab.
In der Regel spielten die Scholl-Kinder, deren Eltern zu den »Honoratioren« zählten, mit den Kindern der anderen Honoratioren – das waren die beiden Lehrer, der Pastor, der Apotheker. Die Handwerkerkinder blieben – wie die Bauern- und die Arbeiterkinder – ebenso unter sich. Sie gingen in den Forchtenberger Turnverein. Die »Honoratiorenkinder« dagegen nahmen Klavierunterricht. Und in ihren Familien standen nicht nur Tassen und Teller, sondern auch Bücher im Schrank, aus denen vorgelesen wurde und in denen die Kinder selber gerne lasen. Bei den Scholl-Kindern besonders beliebt waren Grimms Märchen und die Märchen von Wilhelm Hauff, der »Struwwelpeter« von Heinrich Hoffmann, »Ludwig Richter’s Familienhausbuch« und die Bilderbibel von Julius Schnorr von Carolsfeld.
Sophie Scholl war ein stilles Kind, eher schüchtern, konnte aber auch selbstbewusst auftreten – so die Erinnerungen. Stundenlang beschäftigte
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