Sophie Scholl
von Forchtenberg eingeführt wurde, hatte Robert Scholl an seiner neuen Wirkungsstätte schon schmerzhafte Erfahrungen hinter sich.
FORCHTENBERG
Januar 1920 bis Juni 1930
Nach zehn Jahren als Stadtschultheiß von Forchtenberg schilderte Robert Scholl im Dezember 1929 in einem »Rechenschaftsbericht« die Anfänge: »Als ich mein Amt hier antrat, bestand eine fast unlösbare Verfeindung fast durch die ganze Gemeinde hindurch. Überall Erregung, Kampf und Hass. Ich war daher in erster Linie bemüht, für Beruhigung in der Bürgerschaft und für einen Ausgleich der Gegensätze zu wirken.« Die Gegensätze hatten sich sechs Tage nach der Wahl an seiner Person festgemacht. Am 25. Oktober 1919 legten Forchtenberger Bürger schriftlich Widerspruch gegen das Wahlergebnis ein. Es sei nicht korrekt zustande gekommen und vor allem habe Robert Scholl verschwiegen, dass er »mit hiesigen Familien nahe verwandt« sei. Kurzum: Die Wahl sei ungültig.
Noch am gleichen Abend tagte der Gemeinderat und erklärte einmütig, »von der Korrektheit des Wahlverfahrens und der ganzen Wahlhandlung überzeugt« zu sein. Die Widersprüchler wurden mit deftigen Worten abgeschmettert: ordinär, charakterlos, erbärmlich, niederträchtig und gewissenlos seien sie und wollten »das Gemeindeinteresse aufs gröbste und unverantwortlichste beschädigen«. Das Oberamt in Öhringen schloss sich diesem Urteil an und bat den Gewählten, unverzüglich »mitzuteilen, ob Sie die Wahl annehmen«. Am 3. November 1919 schrieb Robert Scholl zurück: »Ich nehme die Wahl an.« Er war keiner von denen, die vor Herausforderungen zurückschreckten. Lag doch der Antrieb, das ihm wohlgesinnte Ingersheim (gut 300 Einwohner) zu verlassen, in dem ehrgeizigen Ziel, aus dem abgelegenen, altersgrauen Forchtenberg mit seinen 850 Bewohnern eine moderne, prosperierende Gemeinde zu gestalten.
Doch zuerst einmal vergrößerte sich die Familie. Die Kinder Inge, zweieinhalb, und Hans, anderthalb Jahre alt, hatten sich kaum in die neue Umgebung eingelebt, da wurde am 27. Februar 1920 in der Rathauswohnung im ersten Stock Elisabeth Scholl geboren; meist Liesl oder auch Lisl genannt. Schon im Jahr darauf kam als viertes Kind und drittes Mädchen am 9. Mai 1921 Lina Sofie – so steht es in der Geburtsurkunde – im Rathaus zur Welt und wurde am 10. Juli in der barocken Michaelis-Kirche getauft. Sofie – mit »f« und unterstrichen – sollte ihr Rufname sein, und so haben es in der Regel alle für die nächsten zwanzig Jahre gehalten, auch sie selbst. Die Eltern und die älteste Schwester Inge blieben dabei – aber Sofie selbst hat sich ungefähr nach dem zwanzigsten Lebensjahr immer öfter »Sophie« genannt. So soll es von nun an sein, nur in Originalzitaten aus Briefen wird es bei ihrem Taufnamen bleiben.
Am 13. November 1922 wurde als zweiter Sohn und fünftes Kind der Eheleute Scholl Werner geboren. Weil Sophie am nächsten, würden die zwei in den kommenden Jahren sich besonders eng zu Spiel und Zeitvertreib zusammentun. Zuerst einmal war Sophie in ihrer Kinder-Welt geborgen, die Wohnung ihr Lebensmittelpunkt. In der großen Diele trafen sich alle zum Essen, spielten die Kinder, beobachteten das Treiben der Erwachsenen oder saßen auf der Schaukel, die dort angebracht war. Die Tür zur dunklen Küche, wo im Ofen ein starkes Feuer lodern musste, damit es dort warm wurde, stand meist auf. Hier waren die beiden Hausmädchen beschäftigt, die Lina Scholl zur Hand gingen, wenn sie sich nicht um die Kinder kümmerten. Die Schlafzimmer blieben unbeheizt und meist auch die gute Stube, wo sich das Klavier befand.
Das Rathaus war 1722 erbaut worden, ein Großteil der Schultheiß-Wohnung lange Zeit als »Tanzboden« genutzt. Die Amtsräume, durch einen Flur von der Wohnung getrennt, lagen nach vorne zur Hauptstraße hin. Von den Privatzimmern ging der Blick nach hinten hinaus, über die Stadtmauer hinweg auf die Weinberge jenseits des Flusses, wo rote Trauben wachsen, der »Forchtenberger Kocherberg«.
Die Erwachsenen lebten in zwei Welten. Da war der Forchtenberger Provinz-Alltag, und dann gab es die große ferne Politik, über die man durch die Zeitung informiert wurde. Die meisten Forchtenberger waren auf den »Hohenloher Boten« abonniert; Ortsvorsteher Scholl und seine Frau lasen zudem die überregionale liberale »Frankfurter Zeitung«. Zwei Welten, die weit auseinanderklafften. Sophie Scholls Bezugspunkt war die Familie, die Brüder und Schwestern, Vater und Mutter. Für
Weitere Kostenlose Bücher