Sophie Scholl
vom hinteren Teil des Rathauses Richtung Fluss führte zu einer kleinen Tür in der Stadtmauer. In wenigen Minuten war ein breiter Streifen Land längs dem Ufer erreicht, wo die Forchtenberger ihre Gärten hatten, auch die Scholls. Die Mutter überließ den Kindern eine Ecke hinter dem Gartenhäuschen, wo sie nach eigenem Gutdünken werkeln konnten. Gemüse und Obst aus dem eigenen Garten waren in jenen Nachkriegsjahren, als die Lebensmittel immer noch knapp waren, unbezahlbar. Den Scholl-Garten hat längst der Busbahnhof geschluckt, die Gärten flussabwärts jenseits der Kocherbrücke samt dem pittoresken Teehaus haben sich erhalten; nicht anders hat es damals bei den Scholls ausgesehen.
Jenseits des Kocher hatte sich Robert Scholl einen kleinen Weinberg zugelegt, in dem er ein wenig experimentierte. Viel öfter ging Lina Scholl mit den Kindern über die Brücke, um auf den Obstwiesen zu ernten – Äpfel vor allem, dazu Birnen, Quitten und Walnüsse. Aus dem Obst wurde Marmelade gekocht, Gesälz, wie es bei den Scholls auf gut Schwäbisch hieß. Das Gemüse wurde eingemacht. Verschwendung war Lina Scholl fremd, aber am Essen hat sie nicht gespart. Die Fässchen mit Butter und Schmalz wurden niemals leer; keine Geburtstagsfeier, an der nicht ein köstlicher Kuchen auf dem Tisch stand. Zum leckeren Hefekranz gehörten bei Scholls Butter und Gesälz, egal, wie traurig und ärmlich die Zeiten waren. Auch das eine unvergessliche, tröstliche Erfahrung für die Kinder.
Ihrer Familie ein schönes Zuhause zu schaffen, hielt Lina Scholl für eine selbstverständliche Pflicht, der sie freudig nachkam. Mit Kindererziehung hatte sich die ehemalige Diakonisse während ihrer Ausbildung theoretisch beschäftigt, praktisch als Gemeindeschwester und beim Aufbau einer Kinder-Krippe in Ulm-Söflingen. Pestalozzis Klassiker »Wie Gertrud ihre Kinder lehrt« (1801 erschienen) brachte Lina Scholl in die Ehe mit, er stand in Forchtenberg im Bücherregal. Der Schweizer Johann Heinrich Pestalozzi, der die Grundlage für eine kindgerechte Pädagogik legte, lehrt, dass die ganzheitliche Bildung der Kinder im Elternhaus – geistig, körperlich, sittlich – die beste Voraussetzung für ein erfülltes glückliches Leben ist. Bildung heißt für ihn, die Menschen befähigen »sich selbst helfen zu können«. Eine Maxime, die den Eltern Scholl aus dem Herzen sprach, wobei Lina Scholl den allergrößten Teil der Erziehungsarbeit schulterte.
Sophie Scholl schrieb mit achtzehn Jahren einen ausführlichen Schulaufsatz über »Feste und Feiern im Ablauf des Jahres«, der zurückführte in die Forchtenberger Jahre und damit in die frühe Kindheit. Zu den Alltagsfreuden zählt sie das »Bad am Samstagabend«, auf das sich Sophie Scholl »die ganze Woche über freute«: »Meine ältere Schwester durfte schon am Freitag baden, damit nicht all unser Dreck zusammenkam. Wir vier kleinen wurden dann, zwei und zwei, in die Badewanne gesteckt und unserm Schicksal überlassen. Denn unsere Mutter hatte uns die überaus wichtige Aufgabe gestellt, uns selbst zu waschen.« Das funktionierte, nicht zuletzt, weil die Kinder wussten: Beschlossen wurde der Badetag mit Honigbrot und einem Märchen, das die Mutter erzählte. Zwei und zwei: das waren Sophie und Werner, die Jüngsten, und Liesl und Hans, die Älteren.
Nach dem Märchen und vor dem Einschlafen kam das Abendgebet. Lina Scholl gab an ihre Kinder den Glauben weiter, in den sie in ihrem Elternhaus hineingewachsen war; die Geschichten von einem freundlichen Gott, die ihre Mutter ihr erzählt hatte, und vom lieben Heiland, der Mensch geworden war, um die Welt zu erlösen, und nun unsichtbar über alle Menschen wachte. Die Kinder erfuhren, dass es eine »obere Heimat« im Himmel gab, dass auf alle, die an Gott und den lieben Heiland glaubten und versuchten, nach ihren Geboten zu leben, die ewige Seligkeit wartete. Sie konnten fest darauf bauen, dass Gott ihren Lebensweg lenken und begleiten würde.
Die Kinder sahen die Bibel der Mutter und wie wichtig es ihr war, täglich darin zu lesen. Sie betete mit ihnen die Psalmen – Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln – und kannte unendlich viele Lieder und Gebete. Kaum ein Sonntag oder Feiertag, an dem Lina Scholl nicht in den Hauptgottesdienst ging – von Herzen, im Gegensatz zu ihrem Mann, der den Kirchgang absolvierte, weil es sich für den Stadtschultheißen so gehörte. Die Scholl-Kinder besuchten regelmäßig das Kinderkirchle nach dem
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