Sophie Scholl
Hauptgottesdienst, für das ab und an ihre Mutter zuständig war.
Groß war die Freude, wenn Lina Scholl ihre Kinder mit zum Besuch bei den Großeltern in Künzelsau nahm. Der Großvater, Friedrich Müller, saß still und freundlich im Lehnstuhl. Sophie, die rüstige Großmutter, pflegte weiterhin liebevoll ihren Garten. Die Enkelkinder aus Forchtenberg durften es sich auf einem großen alten Jagdsofa gemütlich machen. Dann holte die Großmutter ein Säckchen voller Holznägel, mit denen der Großvater in seiner Schuhmacher-Zeit Sohlen genagelt hatte. Die Kinder wurden nicht müde, daraus Figuren zu legen.
Es war eine große Erleichterung, ab Juni 1924 mit der Eisenbahn nach Künzelsau fahren zu können, statt die Postkutsche zu nehmen. Ende September wurde es eine traurige Fahrt für Lina und Robert Scholl. Friedrich Müller war im Alter von zweiundsiebzig Jahren gestorben. Sophie wird den Großvater nur schemenhaft wahrgenommen und seinen Tod nicht als schmerzliche Lücke empfunden haben. Viel Eindrucksvolleres ereignete sich im nächsten Frühjahr, als Sophie fast vier Jahre alt war. Am 22. März 1925 brachte die knapp vierundvierzigjährige Lina Scholl in der Rathauswohnung zu Forchtenberg ihre jüngste Tochter Thilde zur Welt, ihr sechstes und letztes Kind.
Die Eltern waren überglücklich. Und für die Geschwister war der kleine Mensch aufregend, eben doch etwas anderes als die großen Puppen, mit denen vor allem Sophie Scholl stundenlang spielte. Um die Weihnachtszeit, als Schnee fiel, wurde die kleine Schwester schon mit auf den Schlitten gepackt. Das neue Jahr war noch keine Woche alt, noch stand der Weihnachtsbaum, da wurde aus dem Rathaus ein Trauerhaus. Statt fröhlichem Stimmengewirr, Weihnachtsliedern und Babygeschrei leise Töne; die Mutter unterdrückte ihre Tränen nicht. Um die Jahreswende waren in mehreren Forchtenberger Familien Kinder an Masern erkrankt, darunter auch Thilde. Die Kleinsten hatten der daraus entstehenden Lungenentzündung nichts entgegenzusetzen. Der »Leichenzettel No. 1« für das Jahr 1926 wurde auf Thilde Scholl ausgestellt. In den folgenden vier Tagen wurden drei weitere Namen von Kleinkindern in das Leichenregister eingetragen.
Thilde war in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar 1926 gegen Mitternacht gestorben. Am 5. morgens um 8 Uhr erschien, wie das Gesetz es vorschrieb, der Mesner von Forchtenberg, der zugleich Leichenschauer war, und stellte fest: »Keine Atmung mehr.« Seiner zweiten obligatorischen Leichenschau kam der Mesner am 7. Januar um 9 Uhr nach und gab die Tote zur Beerdigung ab 10 Uhr frei. Bis dahin war Thilde in der Wohnung aufgebahrt, einbezogen ins Familienleben. Im Volksmund hieß die Beerdigung »Leich«. Als der kleine Sarg aus der Wohnung hinausgetragen wurde, zischte der dreijährige Werner: »Böse Leich.« Dass etwas Schmerzliches geschehen war, das ihnen die Erwachsenen nicht erklären konnten, spürten auch die jüngeren Geschwister. Thilde hatte neun Monate und zwölf Tage mit ihnen gelebt.
Der Trauerzug ging durch das Würzburger Tor und über die Kocherbrücke ans andere Ufer, wo noch heute die Forchtenberger ihre Toten begraben; rund um die geduckte alte Kirche, die – wie das große Gotteshaus in der Stadt – dem heiligen Michael geweiht ist, Drachentöter, aber auch Seelenbegleiter. Gut fünfzehn Jahre später, am 13. August 1941, schrieb Inge Scholl ihrem Bruder Werner, wie sie Jahre nach Thildes Tod auf den Forchtenberger Friedhof gegangen war: »Nahe bei Thildes Grab lag inmitten eines verwilderten Rasens ein alter ausgedienter Grabstein.« Sie entzifferte die teils überwachsenen Buchstaben und las einen Spruch aus dem Propheten Jeremia: »Ich habe Dich je und je geliebt, darum habe ich Dich zu mir genommen aus lauter Gnade.« Und fährt fort in ihrem Brief: »Ich nahm ihn wie ein Wunder auf, weil er auch Thildes Grabspruch gewesen war, so als habe Gott selbst diese Worte in den Stein geschrieben.«
Inge Scholl, damals neun Jahre alt, wird dabei gewesen sein, als der Pfarrer an Thildes Grab die Worte sprach, die möglicherweise die Mutter für ihre tote Tochter gewählt hatte. Ganz sicher aber ist, dass bei aller Trauer Lina Scholl aus ihrem Glauben die Kraft holte, diesen frühen Tod als den Ratschluss Gottes für Thildes Leben anzunehmen und diese Botschaft denen weiterzugeben, die mit ihr verbunden waren. Bei Gott hatte alles seinen Sinn, auch wenn er den Menschen oft und lange verborgen blieb. Die Kinder und die Erwachsenen,
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