Sophie Scholl
einfinden, werden von Schutzpolizei bewacht und in einem Omnibus zum Sammellager am Stuttgarter Killesberg gefahren. Mitnehmen durften sie einen oder zwei Koffer, insgesamt nicht mehr als fünfzig Kilo; Bettzeug und für zwei Personen eine vollständige Matratze »ohne Kopfteil«. Empfohlen wurde warmes Überzeug und »ordentliches Schuhwerk«. Das Vermögen wurde bis auf fünfzig Mark Reisegeld eingezogen; die Wohnungen wurden versiegelt. Es dauerte nicht allzu lange, und der Hausrat wurde an nichtjüdische Deutsche versteigert, die Wohnungen anderweitig genutzt.
Mit der Reichsbahn wurden die Ulmer Juden, zusammen mit den übrigen Juden aus Württemberg, von Stuttgart nach Riga verschleppt. Wer arbeitsfähig war, hatte eine kurze Lebensfrist; alle Juden dieses Transportes sind entweder in den nahen Wäldern erschossen worden oder im Getto von Riga umgekommen. In Deutschlands Städten wie auf dem Land blieben die Deportationen nicht geheim. Sie geschahen »vor aller Augen« am hellichten Tag. Sogar Fotos existieren. Jeder kannte einen, der davon gehört oder es gesehen hatte; der in seinem Freundes- oder Familienkreis davon betroffen war wie die Scholls. Die anschließenden Auktionen in den leeren »Judenhäusern« waren gut besucht, das Interesse am Mobiliar wie an den Wohnungen selbst groß.
Am 14. November, zwei Tage vor Eugen Grimmingers Besuch, war Inge Scholl in einem langen Brief auf das eingegangen, was Sophie Scholl bei einem Wochenendbesuch zu Hause in Ulm ausgelöst hatte: »Das Gespräch, das wir an jenem Sonntagmittag beim Essen begonnen hatten, über das Beten und das wir in der Nacht nach oder während des Fliegeralarms noch einmal aufnahmen, hat mich sehr beschäftigt und eine neue Türe aufgestoßen. Da habe ich Dir auch zu danken, denn mit Deinem berechtigten, natürlichen Satz, – dass Gott ungerecht sei, wenn er nur jenen helfe, die zu ihm beten und für die gebetet wird, oder wenn er ihnen mehr helfe als den andern, – war eine große Frage an mich gerichtet gewesen … Denn es geht doch hier um etwas sehr Entscheidendes für uns. Wenn wir nämlich weitergehen mit diesem Satz, dann müssen wir ja überhaupt vom Beten ablassen, dann müssen wir uns sagen: Gott tut, was er für gut hält, ob ich ihn bitte oder nicht. … und die Fürbitten vor allem würden vollkommen ausfallen.«
Was Inge Scholl skizziert, entspricht der radikalen Theologie, die der Kirchenvater Augustinus entwickelte und auf die sich – in gleicher Radikalität – Martin Luther beruft: Nicht durch Werke – wie zum Beispiel Gebet und Fürbitten – kommt der Christ zu Gott, sondern allein durch die Gnade Gottes. Dass Inge Scholl beim Grübeln über die Frage ihrer Schwester sich lange »wie vor einer verschlossenen Tür« fühlte und kein Schlüssel passte, ist nicht verwunderlich. Denn wie Gnade und Vorherbestimmung Gottes, wie Glaube und gute Werke eines Christen zueinander stehen, einander bedingen oder auch nicht, das hat die klügsten Köpfe und frommsten Beter durch die ganze Geschichte des Christentums begleitet und zu sehr unterschiedlichen Antworten geführt.
Inge Scholl jedoch brauchte nicht allzu lange zu suchen. Denn der Katholik Otl Aicher, der seinen Augustinus so liebte, versagte ihm gerade in diesem Punkt die Gefolgschaft und wählte sich nicht ohne Grund Thomas von Aquin als zweiten Stützpfeiler seines Glaubens. Der Kirchenvater aus Italien hat die Zauberformel gefunden, um die Gnade Gottes mit dem freien Willen des Menschen zu verknüpfen. Auf diesen theologischen Rettungsanker hat Otl Aicher viele Male die Gleichgesinnten im Aicher-Scholl-Bund hingewiesen, die noch auf dem Weg zum Glaubenkönnen waren. Erleichtert hat Inge Scholl sich nach dem sonntäglichen Gespräch daran erinnert und gibt diese Lösung an Sophie Scholl weiter: »Wie ein Lichtstrahl ist mir auf einmal der Satz des Thomas gekommen ›Die Gnade setzt die Natur voraus‹. Damit ist die Fürbitte voll und ganz gerechtfertigt, ja dringend notwendig.« Ebenso das Gebet, und wenn man für einen Menschen betet, so hält man »die Natur dieses Menschen der Gnade Gottes hin, weil ich sein eigenes Hinhalten und Öffnen noch verstärken möchte«.
Immer differenzierter wird Inge Scholls Argumentation, immer länger der Brief. Zur »Ergänzung« zitiert Inge Scholl noch ausführlich ihre Eintragung im Tagebuch zum gleichen Thema. Als auch das getan ist, fährt sie freudig fort: »Doch ich bin damit noch nicht zu Ende mit Nachdenken und
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