Sophie Scholl
Den Brief beschließt er mit »Dein dankbarer Otl«. Im vorangegangenen hieß es: »Ich bin viel bei Dir und ein dauernder Gruß begleitet Dich.« Der Neunzehnjährige fühlt sich berufen, aus denen, die mit ihm verbunden sind, das Beste herauszuholen. Immer bis an die Grenze gehen – und darin waren ihm die Scholl-Geschwister ja Gleichgesinnte.
Die Tagebuch-Eintragungen von Sophie Scholl im November und Dezember 1941 verraten, dass sie hart an ihrer Grenze ist. Heimweh, Leere, Müdigkeit und Verzweiflung hingen auch mit ihrer physischen Erschöpfung zusammen; mit dem Versuch, es allen, die ihre Zeit und ihre Kraft in Anspruch nahmen, recht zu machen. Sich selbst fordert Sophie Scholl weiterhin das gewohnte geistige Pensum ab, damit ihr Geist nicht träge wird. Am 10. Dezember schickt sie eine Frage an Otl Aicher, die ihr auf der Seele liegt. Er habe in seinem »Windlicht«-Aufsatz geschrieben, »die Natur sei ein Schemel für Menschen, um zu Gott zu gelangen«; hat sie ihren Zweck erfüllt, versinkt sie wieder im Nichts. Sophie Scholl, den Blick in die leicht verschneiten Felder gerichtet, darüber der winterliche Himmel, macht dieser Gedanke vom Untergang der Natur traurig, mehr noch: »Ich finde es unvorstellbar.« Alles, woran sie sich freut, soll vergehen? Nebenbei fragt sie noch: »Wer ist eigentlich Nikolaus von Kues?« Otl Aicher geht das Herz auf, weil Sophie Scholls Brief lang und voller Fragen war: »… und so etwas macht mir immer Freude.«
Den Schemel-Vergleich erklärt er mit dem Hinweis auf kleine Kinder: Sie erhalten einen Schemel, damit sie aus dem Fenster schauen können. Sind sie groß genug, brauchen sie den Schemel nicht mehr. Genau so verhält es sich mit der Welt. Für Otl Aicher gibt es überhaupt keine Zweifel: »Und es ist nun einmal geoffenbart, dass die Welt untergeht und logisch ist dem rein gar nichts entgegenzusetzen. Ja wenn man die Natur als eben einen Schemel betrachtet, ist es durchaus in Ordnung und sei sie noch so wunderbar.« Der überzeugte Katholik Otl Aicher hat eine leichtfüßige Art, seinen Glauben auf andere zu übertragen: »… und ich glaube bestimmt, Du wirst diesen Gedanken lieb gewinnen, wenn Du dir beim Anblick der Berge sagst, das alles ist um Deinetwillen geschaffen.« Noch ein kurzer Absatz, ob das Nichts wirklich von Gott geschaffen sei, und weiter geht es zu Nikolaus von Kues, Kardinal, Philosoph, Mathematiker, der an der Schwelle zur Neuzeit lebte.
Wer nur die Briefe dieser jungen Menschen liest – Otl ist mit neunzehn Jahren der Jüngste, die vierundzwanzigjährige Inge Scholl die Älteste –, der könnte meinen, sie lebten wie auf einer Insel, wüssten nichts von der kriegerisch-bedrohlichen Wirklichkeit. Doch das, worüber sie schreiben, weil es sie bewegt, ist eng mit ihrer Lebenswirklichkeit verbunden. Otl Aicher wird in einer Kaserne in Ludwigsburg für den Einsatz an der Front ausgebildet. Fritz Hartnagel kann jeden Tag wieder an die Front kommandiert werden, ob in Nordafrika oder Russland. Hans Scholl studiert zwar, doch er ist in München zu einer Studentenkompanie eingezogen worden und kann jederzeit in den Krieg ziehen müssen. Werner Scholl ist im Oktober zurückgekommen vom Arbeitsdienst in Frankreich und wurde sofort eingezogen, um in einer Ulmer Kaserne das Kriegshandwerk zu lernen. Sophie Scholl kann nur hoffen, dass im März 1942 ihre Zwangsverpflichtung endet. Die Zeit ist zu kostbar, um in den Briefen über diesen Alltags-Hintergrund, von dem alle wissen, zu reden. Dazu genügt ein kritischer Blick in die Zeitungen, um neben aller Propaganda-Lügen untrügliche Zeichen für die wirkliche Lage zu entdecken.
In den Zeitungen stieg die Zahl der Todesanzeigen gefallener Soldaten drastisch. Zwar waren bis in den Herbst drei Millionen Soldaten der Roten Armee gefangen genommen. Aber dagegen standen rund 830 000 deutsche Soldaten, die im gleichen Zeitraum in Russland gefallen und verwundet waren oder vermisst wurden. Im Vergleich: Der gesamte Frankreich-Feldzug hatte 27 000 deutschen Soldaten das Leben gekostet. Die Machthaber, immer auf gute Stimmung an der Heimatfront bedacht, spürten, sie mussten gegensteuern. Am 4. Oktober 1941 berichtete das »Ulmer Tagblatt«: »Ein Jubel ohnegleichen erfüllte den Sportpalast, als der Führer am Eingang erschien.« Dann zitierte die Zeitung aus der Rede, die Hitler gehalten hatte: »Seit zwei Jahren führt das deutsche Volk seinen Befreiungskampf gegen die jüdisch-plutokratischen Mächte der
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