Sophie Scholl
Sophie Scholl ist es der Mensch, der sich außerhalb dieser Harmonie gestellt und damit die Ordnung gestört hat. Die Folgen sind schrecklich: Die Dinge, die Maschinen, sind dem Menschen keine Diener mehr, sondern werden zu Zerstörern. »Das Gebrüll der beleidigten Erde« scheint den »unbeirrbaren Frieden« zu übertönen. Wer hört da nicht das Donnern der Kanonen an der Front, das Dröhnen der Bomber, die ihre tödliche Fracht abwerfen? Wer denkt nicht an das verbrecherische System, das für diesen Krieg verantwortlich ist? Sophie Scholl jedoch will sich dieser zerstörerischen Logik nicht beugen: »Aber ich kann es nicht glauben, ohne dabei unterzugehen.« In eine positive Sprache gewendet: Sophie Scholl würde sich selber verraten und moralisch untergehen, wenn sie nicht den festen Glauben hätte, dass dieses verbrecherische, kriegerische System besiegt und der Frieden und die natürliche Ordnung der Dinge wiederhergestellt werden können. Sie ist in kämpferischer Stimmung an diesem 24. Juni 1942. Sie will das, was sie als wahr erkannt hat, nicht aufgeben. Dieser Schritt ist unumkehrbar. Und sie hat es ja schon für sich und andere formuliert: dem Gedanken muss die Tat folgen.
Am 26. Juni fährt Sophie Scholl übers Wochenende nach Hause; das erste Mal, seit sie zwei Monate zuvor nach München aufgebrochen war. Ein winziger Bruchteil aus den Ulmer Gesprächen hat sich in Inge Scholls Tagebuch erhalten. Seit längerem führt sie ein Tagebuch, das ein innerer Monolog mit Gott ist; eine Gewissensprüfung, die die eigenen Gefühle, Gedanken und Vorgehensweisen skrupulös hinterfragt und als Gebete formuliert. Am Abend des 29. zeichnet sie eine Begebenheit vom Vortag auf: »Ja, gezittert habe ich inwendig, als Sofie gestern mit der Messe anfing. Mir wurde auf einmal bewusst, dass ich mit dem vor mir liegenden Schritt, in die Mutter Kirche zurückzukehren, meine ganze Geschwisterschar mit mir ziehen werde.« Es war im Februar, als die Protestantin Inge Scholl an Otl Aicher geschrieben hatte, es gebe nun kein Hindernis mehr für ihren Übertritt zum Katholizismus – den sie so direkt nie benannte. Am 28. Juni glaubt sie, aus Sophie Scholls Frage nach der katholischen Messe den gleichen Wunsch herauszuhören: »Es ist tatsächlich bei Sofie derselbe Drang und Anstoß wie bei mir: die Fülle der Segnungen durch die Messe, besonders durch die Kommunion, die dadurch hereinströmende Gnade ist es, nach der wir uns hinsehnen. Es ist ja unsere Kirche (sie ist gar keine Kirche) eine Dürre, gegenüber dieser Fülle.«
Der Verweis auf »unsere Kirche«, die protestantische, die sie – aus katholischem Blickwinkel – schon nicht mehr als Kirche anerkennt, lenkt ihren Blick auf Lina Scholl: »Und der Gedanke macht mich bang um Mutters Willen. Denn sie hängt mit einer blinden Anhänglichkeit an ihrem Überkommenem. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, als verließen wir da unsere gute Mutter. Aber das ist es ja nicht. Doch ich wäre froh, lieber Gott, wenn es ohne Stachel bei ihr gehen würde. Ich muss meine Absicht noch so geheim halten wie das zarteste Liebesgeheimnis.« Für Inge Scholl ist es im Sommer 1942 nur noch eine Frage der Zeit, wann alle ihre Geschwister – und damit auch Sophie Scholl – die katholische Kirche als die wahre, die »Mutterkirche« anerkennen werden. Die fromme Protestantin Lina Scholl hält sie für blind und uneinsichtig, im Glauben ihrer Eltern gefangen.
Zwei vorangehende Tagebuch-Gebete vom Juni deuten an, dass ihre jüngste Schwester in vielfacher Hinsicht ein Thema für Inge Scholl ist und das schwesterliche Verhältnis von ihr aus nicht ohne Spannungen. Am 18. Juni bittet sie Gott: »Hilf Du dem Verhältnis zwischen Sofie und mir.« Am 22. Juni: »Nimm mir den falschen Ehrgeiz gegenüber Sofie. Sieh, dass ich sie so liebe, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass auch sie diese schimmernde Freude im Herzen tragen darf.« Gibt es Beweise für Inge Scholls Deutung vom 29., dass auch Sophie Scholl auf dem Weg in die katholische Kirche sei, oder war es Wunschdenken?
Am 29. Juni schreibt Sophie Scholl in München ein Gebet in ihr Tagebuch. Wieder ist es der Versuch, zu Gott durchzudringen, ihm ein Herz hinzuhalten, »das tausend Wünsche von Dir fortziehen«. Weil sie sich immer wieder von Gott abkehrt, bittet Sophie Scholl, »reiß mich mit Gewalt zu Dir«. Dahinter steht die Gewissheit, »dass ich nur bei Dir glücklich bin«. Das Beste sei noch der Schmerz, den sie
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