Sophie Scholl
empfindet, weil sie so entfernt von ihm ist. Im November 1941 war ihr Gebet von Angst, Furcht und Ohnmacht geprägt. Gott war schrecklich fern, sie selbst ein Nichts. Auch im Juni 1942 fühlt sie sich oft »tot und stumpf«, doch der tiefste Punkt scheint überwunden. Gott ist eine Realität geworden, wenngleich immer noch als ein »großes Unbekanntes«. Aber er ist da, und er hat sie beim Namen gerufen: »Ich weiß ja, dass Du mich annehmen willst, wenn ich aufrichtig bin, und mich hören wirst, wenn ich mich an Dich klammere.« Der schlimmste Mangel, den sie fühlt, ist der Mangel an Gefühl. Es ist, als ob sie empfindungslos dahinlebt, in sich eine große Leere. Das ist ihre intensivste Bitte: »Lieber brennenden Durst, lieber will ich um Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen beten, als eine Leere zu fühlen … Ich möchte mich aufbäumen dagegen.« Das Gebet endet auf einer kämpferischen Note.
Wie im November 1941 ringt Sophie Scholl mit ihrem Gott. Es ist wieder eine sehr persönliche Auseinandersetzung, in der sie sich wie damals auf den Grund geht. Aber in den zurückliegenden Monaten hat sich die Bitterkeit verflüchtigt. Sie ist kein Nichts, und Gott ist nicht mehr fern. Ihre Bitten sind keine verzweifelten Schreie mehr. Sophie Scholl trägt sie vor Gott mit der Zuversicht, dass ihre Sehnsucht nach ihm wachsen wird. Gott wird sich nicht abwenden, er wird ihr taubes Herz öffnen, so dass sie »hinfinden kann zu einer Ruhe, die lebendig ist in Dir«.
Die Gefühle und alle Sinne ansprechende Liturgie der katholischen Messe berührt die Denkerin Sophie Scholl inzwischen tiefer als der protestantische Gottesdienst. Sie liest viele theologische Bücher, ausschließlich von katholischen Autoren. Es ist der Katholik Otl Aicher, der Sophie Scholl – und ihren Geschwistern – die entscheidenden Lektüre-Hinweise gibt, vom Renouveau Catholique schwärmt und alles Protestantische fern hält. Und wie soll Sophie Scholl im katholischen München auf Protestanten treffen, die ihr moderne protestantische Theologen wie Dietrich Bonhoeffer oder Karl Barth nahe bringen? Es ist schade und den Umständen geschuldet: Sophie Scholl hat, ohne sich dessen bewusst zu sein, einen gewichtigen Mangel an Kenntnissen in Sachen Protestantismus und protestantischer Theologie. Eindrucksvolle protestantische Persönlichkeiten kommen im Umkreis ihrer Biografie nicht vor. Dafür, wiederum in München, viele Protestanten, die zum Katholizismus übergetreten sind: von Radecki, Haecker, Bergengruen, Professor Martin.
Aber Sophie Scholls Glaube, wie er sich in den Tagebuch-Überlieferungen äußert, hat nichts mit konfessionell-theologischen Auseinandersetzungen oder Abgrenzungen zu tun. Thomas von Aquin taucht in ihren Gebeten nicht auf. Sie bittet, im Gegensatz zu Inge Scholl, weder Engel noch Heilige um Hilfe. Es geht Sophie Scholl – sehr protestantisch – um ihre direkte Beziehung zu Gott. Wenn Inge Scholl in ihrer Tagebuch-Eintragung vom 29. Juni insinuiert, dass es auch Sophie Scholl zur »Mutter Kirche«, das heißt zum Katholizismus, zieht, gibt es dafür keine Beweise, keine Aussage von Sophie Scholl. Nirgendwo zeigt sich im Sommer 1942 in ihren Aufzeichnungen oder Briefen eine solche Hinwendung. Der Kirchenvater Augustinus hat mit seinen »Bekenntnissen« Einfluss auf Sophie Scholls Sicht vom Leben und von Gott. Kaum ein Theologe jedoch hat Augustinus so beim Wort genommen wie Martin Luther. In ihren Gebeten steht Sophie Scholl allein vor ihrem Gott.
Aber in der Welt ist sie nicht allein. Immer wieder finden Fritz Hartnagels Briefe aus Russland den Weg zu ihr. Er leidet unter den Kasino-Abenden, wo seine Kameraden sich sinnlos betrinken und wüste Witze reißen, nicht weniger als unter dem Krieg. Und informiert Sophie Scholl am 26. Juni über das Schreckliche, das er an einem solchen Abend erfahren hat. Sein Kommandeur erzählte »mit zynischer Kaltschnäuzigkeit von der Abschlachtung sämtlicher Juden des besetzten Russland«. Um so sehnsüchtiger wartet Fritz Hartnagel auf Sophie Scholls Briefe: »Oh liebe Sofie, Du machst mich so froh mit Deinen Briefen. Da ist mir’s, als ob Du ganz nahe bei mir wärst und mein Herz fängt an zu klopfen als ob ich Dich in meinen Armen halten würde und unsere Gedanken sich in Liebe vereinen, wie in den seligsten Stunden unseres Zusammenseins.« Die Erinnerungen, die mit diesen Briefen in den Weiten Russlands Gegenwart werden, sollen ihm helfen, all das Schreckliche auszuhalten.
Welcher
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