Sophie Scholl
Tisch, ein Bücherregal, und der Blick durchs Fenster geht auf grüne Bäume. Die bucklige Couch, mit einer orangefarbenen Decke verschönert, dient gleichzeitig als Bett. Oft jedoch war Sophie Scholl nicht hier. Sie macht, wieder einmal, eine zwiespältige Erfahrung. Wenn Fritz Hartnagel schon in der ersten Maihälfte aus ihren Briefen den Wunsch nach Alleinsein herausliest, um wie viel mehr muss sich diese Sehnsucht im Trubel der folgenden Wochen gesteigert haben. »Hier habe ich jeden Tag etwas neues zu verdauen,« schreibt sie am 30. Mai an Lisa Remppis. Sie möchte mehr für sich sein, »denn es drängt mich danach, durch ein äußeres Tun das in mir zu verwirklichen, was bisher nur als Gedanke, als richtig Erkanntes in mir ist.« Den Bedenken folgt sogleich der positive Aspekt: »Aber ich bin doch froh, wenn ich aufnehmen kann. Wenn ich auch noch auf schwankendem Boden stehe.«
Was Sophie Scholl als richtig erkannt hat, bleibt ungesagt, und jede Vermutung darüber steht auf schwankendem Boden. Aber eindeutig ist die Zielrichtung: sich nur in Gedanken fortzuentwickeln, reicht Sophie Scholl nicht; aus dem Denken muss Handeln werden, eine sichtbare Tat. Diese Forderung an sich selbst ist nicht erst auf dem Hintergrund der Münchner Aktivitäten entstanden. »… vielleicht sind uns wirklich heute Aufgaben, nach außen und mit der Tat zu wirken, gestellt,« hatte sie im August 1941 aus dem Lager in Krauchenwies an Lisa Remppis geschrieben. Beide Brief-Aussagen erinnern an den 22. Vers im Brief des Jakobus, den Sophie Scholl, besonders schätzt: »Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein, wodurch ihr euch selbst betrügt. … Wer aber durchschaut in das vollkommene Gesetz der Freiheit und darin beharrt und ist nicht ein vergesslicher Hörer, sondern ein Täter, der wird selig sein in seiner Tat.« Und hat die Freiheit auf seiner Seite.
Die Begegnungen in München haben Sophie Scholl noch keine letzten Gewissheiten gebracht, aber den Drang zur Tat gefestigt und verstärkt. Dabei kommt das Alleinsein, das Sophie Scholl seit den Jugendjahren liebt – am Ufer der Iller sitzen und dem Fluss zuschauen, lange Spaziergänge durch die Wälder um Ulm machen –, zu kurz. Andererseits genießt sie die Abwechslungen des Studentenlebens, das sich mehr in Abendgesellschaften, Ausflügen, Konzerten, langen Spaziergängen im Englischen Garten und intensiven Gesprächen abspielt als in Hörsälen und Seminaren.
Während ihre Schwester Liesl die vielen außeruniversitären Aktivitäten verblüfft registriert, kritisiert Waldemar Gabriel in einem Brief vom 17. Juni Sophie Scholls stolze Berichte darüber: »Sie haben einen großen Kreis jetzt um sich und rühmen ihn. Ich kenne zu wenig von diesem Milieu dort. Doch sehe ich fast mit Bedauern, wie Sie zu vielen Eindrücken preisgegeben werden und der Begriff ›Gesellschaftskultur‹ vielleicht einen zu großen Wert einnehmen wird.« Es ist der interessierte Blick eines Fremden, der von Sophie Scholls Leben nichts kennt als ihre punktuellen Erzählungen aus den ersten Wochen und Monaten in München und einige wenige biografische Einzelheiten. Gabriels Eindrücke sind ungewohnt und rar, da kritische Einschätzungen über Sophie Scholl von außerhalb ihres Kreises fehlen, die zeitgleich stattfanden und nicht Jahre später formuliert werden, vom Ballast der Erinnerungen und vom tödlichen Ende her beschwert und geprägt. Ungewöhnlich ist auch, wie vertraut Sophie Scholl dem Fremden von ihren Unternehmungen berichtete und offenbar nichts ausließ. »Sie werden mich ja etwas teilhaben lassen an Ihrem Erleben in München und mich im tiefen Wald bisweilen besuchen, wie jenen Pfarrer im Böhmerwald«, heißt es im gleichen Brief.
Es wirkt anregend und befreiend auf Sophie Scholl, einem Fremden, der die Verwurzelungen und die Widersprüche ihrer Biografie nicht kennt, von sich zu erzählen, als gebe es nur das Heute. Am 24. Juni nimmt sie Gabriels Stichwort von der »unerlösten Natur« auf und widerspricht dieser These des Apostels Paulus, weil für sie in der Natur immer die »größte Harmonie« erklingt. Sie erzählt vom vergangenen Sonntagabend, als sie »in ein stilles großes Gebirgstal hineinschritt, umspült von der lauen Abendluft«. Es zeichneten sich nur noch die großen Linien ab, und da »schienen alle Dinge, mit denen ich sonst mich abquälte, von mir abzufallen wie unnützes Laub, und mit einem ganz anderen Maßstab begann ich zu messen, was mich bewegte«.
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