Sophie Scholl
halte Otl für einen Christen, und er hat auf mich nicht nur gewirkt durch das, was er sagte, sondern durch das, was er ist. Man spürt in ihm das Wirken des Geistes, wie ich es von keinem anderen erlebt habe.«
Sophie Scholls Verteidigung – fast könnte man sagen »Heiligsprechung« – Otl Aichers hat eine Parallele in einem Brief von Inge Scholl an Carl Muth. Sie könne immer wieder nur über Otl staunen, hatte sie dem Freund im Mai geschrieben, »weit entfernt von aller Verliebtheit und – Gott bewahre mich davor – Vergötterung«. Es sei der Geist, der ihn heraushebt und segnet. Otl Aicher habe »von Kindheit an ein bewusst und unbewusst unter Gottes Wirken gestelltes Leben« geführt. So ähnlich sind sich die beiden Briefstellen, dass man vermuten darf, die Schwestern haben sich mehr als einmal über den geliebten und bewunderten Menschen ausgetauscht.
Nun würde Sophie Scholl ihn wiedersehen, neun Monate nach ihrem letzten Treffen im elsässischen Münster. Damals, Mitte März 1942, hatten sie einen langen Abend und die Nacht verbracht. Otl Aicher hatte ihr nach der Rückfahrt mit dem Rad in die Kaserne geschrieben, der »Schimmer von einem großen Beginnen« habe über ihrem Zusammensein gelegen. Wieder, wie in Münster, gibt es über das Treffen in Bad Hall nur Otl Aichers Zeugnis, aufgezeichnet Jahrzehnte später in seiner Autobiografie »innenseiten des kriegs«. Der Rückblick beginnt launig mit Otl Aichers guter Stellung bei den Lazarettschwestern, weil er in der Küche »die allerschönsten salzburger nockerln« herstellte und ihnen auch sonst zur Hand ging: »so durfte ich, als sophie zu besuch kam, auch längere ausgangszeiten in anspruch nehmen und konnte bei der rückkehr … den kücheneingang benutzen. und auf dem balkon meines krankenzimmers baute ich aus matratzen eine nicht einzusehende sitzecke, die es erlaubte, meinen besuch auch über die sperrstunde im haus zu haben.« Ob in der Balkonecke oder in einem oberösterreichischen Gasthof: Die beiden reden und reden.
Sophie Scholl erzählt von dem Münchner Kreis, den Otl Aicher bald bei einem Besuch kennenlernen soll. Sie will wissen, ob er Angst habe, weil er sich dank seiner Gelbsucht in das Lazarett nach Bad Hall geschmuggelt habe, und ob die Militärpolizei hinter ihm her sei. Otl Aicher beruhigt. Er hat sich ordnungsgemäß bei seinem Truppenteil in Russland mit der Bad Haller Adresse gemeldet. Stalingrad ist ein Thema: die Hoffnung, dass die Herrschaft des Bösen mit dieser Niederlage zusammenbricht, und die Angst, dass geliebte Menschen – Fritz Hartnagel zum Beispiel – dafür mit dem Leben bezahlen müssen. War das dann ein sinnloser Tod? Und wie schnell würde das Ende des verhassten Regimes wirklich kommen? Während Aicher nicht an eine schnelle Invasion der Amerikaner und Alliierten in Europa glaubt, ist Sophie Scholl überzeugt, sie wird bald kommen.
Mit einer Frage verknüpfte Sophie Scholl Politik und Christentum. Wie es komme, dass gerade katholische Länder eine so starke Affinität zum Faschismus hätten? Über Thomas von Aquin gehen sie zurück bis zu Aristoteles, den sie so schätzten wegen seiner vernunftgeprägten Philosophie. Aber der Grundsatz seiner Staatslehre – »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« – war durch die nationalsozialistische Ideologie gründlich diskreditiert. Die Sicherstellung der Freiheit des Einzelnen müsse oberstes Staatsgesetz sein. An diesem Punkt erzählt Sophie Scholl, so Otl Aicher, von ihrem Bruder Hans: »… er habe beim jungen Schiller, als auch der noch Republikaner war, eine Stelle gefunden … er hatte einmal den Mut gehabt zu schreiben, der Staat sei dazu da, den Zweck der Menschheit zu erfüllen, nämlich die Ausbildung aller Kräfte, die im Menschen liegen«. Mit dem Hinweis auf das Schiller-Zitat betritt Sophie Scholl sensibles Gelände. Es stand im ersten »Flugblatt der Weißen Rose«. War das die Gelegenheit, Otl Aicher einzuweihen in die Aktivitäten und Pläne der Münchner Freunde?
Dazu befragt, hat Otl Aicher im Rückblick erklärt, er habe nie eine Andeutung über die Münchner Widerstandspläne erhalten (Vinke: Das kurze Leben der Sophie Scholl). Ein Brief von Otl Aicher an Carl Muth legt offen, dass diese Auskunft nicht haltbar ist. Otl Aicher schreibt am 31. Oktober 1943 an den Menschen, der für ihn wie ein Vater war, über Sophie Scholl: »Ich weiß auch, wie ich selbst in diesen Tod verflochten bin. Sie hat mir in Bad Hall alles dargelegt, ohne dass ich auch
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