Sophie Scholl
Otl versteht dies ja nicht. Sofie hat mir gerade erzählt, dass Otl einmal die Nacht über aus der Kaserne und zu ihr gekommen sei. Nun weiß ich aber, dass dies gar nichts zu sagen hat und dass ich nichts darüber denken brauche.« Sie beruhigt sich damit, dass es sich bei Otl um »kindhaft menschliche Liebe« handelt, und Sophie traut sie »soviel Kraft, Reinheit und Sanftmut zu, dass sie das Rechte auch hier finden wird«. Aber Inge Scholl ist auch so ehrlich, Gott zu gestehen, dass ihr »Vertrauen zu den Menschen einen starken Riss bekommen hat« und dass sie »für die liebsten Menschen böseste Vermutungen« habe. Die Frage, die sich ihr stellt: »Soll ich über all das Otl gegenüber schweigen?« Ihre Antwort: Sie müsse »dieses Opfer schweigend bringen. Ich will nicht sentimental werden, Vater«.
Einen Tag später, am 27. Dezember, antwortet sie auf einen Brief von Otl Aicher. Darin hatte er von Sophie Scholls Besuch in Bad Hall erzählt, sie mit einem Herbstmond im November und Inge mit dem Frühlingsmonat Mai verglichen. »Mein lieber Otl«, schreibt sie, »dagegen verwahre ich mich mit aller Entschiedenheit. Du kennst Sofie noch zu wenig.« Wenige Abschnitte später tritt sie noch einmal dem Bild entgegen, das Otl Aicher von ihrer jüngsten Schwester entworfen hat: »Ganz entschieden wehre ich mich dagegen, dass Sofies Leben nicht Blüte tragen kann wie das Meine …« Auch auf den Besuch in Bad Hall geht sie ein: »Dass Du Dich Sofie so nahen hast dürfen und dass ihr wertvolle Tage zusammen hattet, da will ich mich mit Euch freuen.« Sofie habe ihr »so manches« erzählt. Er dürfe ihr aber glauben, dass sie mit ihr »über Dich, was Dich zutiefst bewegt« nicht gesprochen habe. Die Freude klingt distanziert, fast gequält, und trotz des selbst auferlegten Schweigegebots lässt sie Otl Aicher durch die Blume wissen, welches Verhalten seinerseits sie gar nicht goutieren würde.
Was Inge Scholl nicht anspricht, was sie aber wohl auch wurmt: Sophie Scholl hatte sich die Freiheit zu einem mehrtägigen Besuch bei Otl Aicher genommen. Inge Scholl hat Otl Aicher seit dem Frühjahr 1942, als er nach Russland musste, nicht mehr gesehen. Und ist offenbar so sehr im Steuerbüro von Robert Scholl beschäftigt, dass sie nicht nach Bad Hall fahren kann – oder es nicht wagt.
Der Übergang ins neue Jahr wird auch innerhalb der Familie von einem Missklang begleitet. Seit Hans Scholl 1941 festen Anker im Christentum geworfen hat – »mir ist in diesem Jahre Christus neu geboren –, fordert er immer wieder seinen Vater mit der Frage heraus: »Gibt es einen persönlichen Gott?« Robert Scholl ist nicht davon überzeugt. Mitte Januar 1943 erfährt Otl Aicher von Inge Scholl: »Hans hat schon wiederholt heftige Diskussionen mit Vater gehabt … Mit solch’ einem außerordentlich leidenschaftlich geführten Kampf zwischen Vater und Hans begann das Jahr 1943, nachdem wir zuvor um Mitternacht mit den Gläsern angestoßen hatten.« Was Lina Scholl seit Beginn ihrer Beziehung zu Robert Scholl tolerierte, will Hans Scholl nicht akzeptieren, und Inge Scholl nennt die Überzeugungen ihres Vaters »Vorurteile«. In Sophie Scholls Briefen gibt es keine Hinweise darauf, dass sie die Einstellungen ihres Vaters in diesem Punkt kritisiert haben könnte. Sie hat den Silvester-Streit miterlebt, aber sich offensichtlich nicht an den Attacken ihres Bruders beteiligt.
Für den zweiten Tag des Jahres 1943 hat sich Inge Scholl zwei Dinge vorgenommen. Sehr früh am Morgen geht sie in eine katholische Kirche, um »klar und still« zu werden. Tags zuvor hatte sie einen Brief von Otl Aicher bekommen, über den sie ihm schreiben wird: »Dein Brief war mir wie ein Hineingeschossen werden in einen finsteren Wald, wo ich selbst nicht gewusst hätte mich herausfinden.« Nach dem Kirchgang jedoch und den Eintragungen in ihr Gebetsheft, »um vor Gott noch einmal alles festzulegen«, fühlte Inge Scholl sich stark genug, Otl Aichers Brief zu beantworten. Sie rechtfertigt sich gegenüber der Kritik an ihrer Person, die sie tief schmerze. Es wird ein sehr langer Brief, der sie schließlich zu Sophie Scholl führt und ihrem eigenen Platz in dem Dreieck Sophie – Otl – Inge.
Noch einmal kommt Inge Scholl auf Aichers vorletzten Brief zurück, als er die beiden Schwestern verglichen hatte: »Ich habe auch bei dem Vergleich Sofies mit einem Herbstmond nicht übersehen und vergessen, dass der November Dein Lieblingsmonat ist. … Doch selbst wenn Du
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