Sophie Scholl
nur im Entferntesten hätte auf diese Dummheit schließen können.« Diese Dummheit: Das kann sich nur auf das Auslegen der Flugblätter in der Münchner Universität am Vormittag des 18. Februar 1943 beziehen, das zur Verhaftung von Sophie und Hans Scholl und ihrem Tod führte. Auf solch ein riskantes Unternehmen allerdings musste Otl Aicher nicht kommen, als er von Sophie Scholl generell informiert wurde.
Zwei Tage hatten die beiden in Hall für sich, dann ist Sophie Scholl weiter nach Ulm gefahren. Am 24. Dezember nicht unter dem häuslichen Weihnachtsbaum mit den Eltern zu feiern – undenkbar für die Scholl-Kinder, wenn man es eben einrichten konnte. Auch Hans war aus München gekommen. Spät am Abend schrieb Sophie einen Brief an Lisa weiter – »der Lichterbaum ist erloschen«. Sie dankt ihr für die Geschenke. Dann kommt sie auf ihren Vater zu sprechen, dem »die Existenz endgültig genommen« sei. Man werde sich halt einschränken und neue Wege finden: »Hoffentlich kommt bald die Zeit, die Kräfte wieder voll und freudig zu entfalten. Trotz der vielen Sorgen ist er guten Mutes.«
Als Weihnachtsgeschenk bekommt Lisa Remppis ein Bild, das Sophie Scholl vor einem halben Jahr gemalt hat. Es zeigt Inge Scholl im Profil bei einem Bach-Konzert in der Ulmer Dreifaltigkeitskirche. Sophie erläutert liebevoll das Bild: in Inges Gesicht spiegeln sich die kurzen Nächte und die Müdigkeit der langen Arbeitsstunden, aber auch die Wirkung der Musik. Zum Schluss bedauert Sophie Scholl noch einmal, dass sie neulich auf der Durchreise nach Stuttgart Lisa nicht angetroffen habe, und wiederholt: »Es weiß übrigens niemand von dieser Reise.«
An diesem Weihnachtstag erfährt Inge Scholl von Sophie, dass Otl Aicher ihr in Bad Hall mehrere von Inges Gebetsheften gezeigt und zum Lesen gegeben habe. Inge Scholl hatte lange überlegt, bevor sie Otl Aicher ihre sehr persönlichen Aufzeichnungen anvertraute. Am nächsten Tag, dem 25. Dezember 1942, schreibt sie in ihr Gebetsheft, in dem sie Gott als ihren Gesprächspartner direkt anspricht: »Und zwischen Sofie und mir ist in der letzten Zeit eine große Spannung gewesen. Ich will Dir auch sagen, dass es mir von Otl einfach unverständlich gewesen wäre, Dinge, die zwischen ihm und mir waren, wie zwischen Eheleuten, dass er die ohne mein Mitwissen einem Dritten gegeben hätte, dazu einem Dritten, der immer oder viel bei mir ist. So habe ich denn Sofie gefragt – ich habe schon Herzklopfen und mich selbst überwinden müssen – ob ihr Otl das andere Heft auch zum Lesen gegeben habe.« Sophie antwortet, er habe ihr »einige Stellen daraus vorgelesen. Zum andern sei sie aber noch nicht gekommen«. Inge Scholl bittet die Schwester, mit dem Lesen zu warten: »Sie war ganz demütig – Hans holte sie zum Schlafen – Über mich kam Friede.«
Vielleicht war Sophie Scholl eher betroffen als demütig, mit ihren Erzählungen von Bad Hall Inges Gefühle verletzt und tiefes Misstrauen ausgelöst zu haben, das in Wahrheit Otl Aicher galt. So wie nach Sophies Besuch in Münster, als sie Inge Scholl ahnungslos ein Foto von Otl Aicher schickte, das er Sophie gegeben hatte und von dem Inge Scholl schon lange einen Abzug besaß. Als Sophie Scholl am 24. Dezember ein Bild von Inge an Lisa Remppis schickt, scheint sie nichts von den Spannungen gespürt zu haben, die die Schwester ihr gegenüber angesammelt hatte. In den Tagen um und nach Weihnachten 1942 wird daraus eine komplizierte Geschichte, die zum einen Inge Scholl und Otl Aicher betrifft. Soweit Sophie Scholl darin vorkommt, ist sie ein Teil ihrer Biografie. Allerdings ist in diesen angespannten Tagen nur Inge Scholls Stimme hörbar. Sophie Scholl hat kein Wort darüber verlauten lassen. Und Otl Aichers Briefe an Inge Scholl sind noch immer gesperrt.
Die Heftigkeit, mit der Inge Scholl auf Otls Vertrauensbruch reagiert, lässt darauf schließen, dass sie nicht zum ersten Mal von Enttäuschung und Eifersucht geplagt wird. Zur Erinnerung: Im Sommer 1941 hatte Inge Scholl Ernst Reden, mit dem sie »innig« verbunden war, mitgeteilt, dass sie nun mit Otl Aicher in »Freundschaft und Liebe« zusammengehöre. Für Familie und Freunde waren Inge und Otl seitdem ein Paar. Am 26. Dezember 1942, nach einem weiteren Gespräch mit Sophie, schreibt Inge Scholl in ihr Gebetsheft, dass es ihr immer aufs Neue weh tue, auch wenn ihr Geist »schon oft darüber Herr geworden« sei: »Dass Otl mit Sofie dieselben Zärtlichkeiten haben könnte wie mit mir.
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