Sophie Scholl
gefragt. Lina Scholl war wieder krank, und Inge Scholl mit der Arbeit im Büro des Vaters und dem Haushalt überfordert, zu dem seit fünf Monaten eine schwangere Frau aus dem Bekanntenkreis gehörte; soeben war ihr Kind zur Welt gekommen. Aus dem Abstecher zum Dürrnhof jedoch wurde nichts. Das zeigt Sophies Münchner Brief an Lisa Remppis vom 2. Februar. Ein Grund, noch etwas in München zu bleiben, könnte sein, dass der verehrte Theodor Haecker kurzfristig Hans Scholl zugesagt hatte, am 4. Februar im Atelier Eickemeyer eine Lesung zu halten.
Am 3. Februar 1943 wurde mit verlogenem Pathos im Staats-Radio bestätigt, was seit Tagen in der Bevölkerung die Runde machte, die Menschen aufwühlte und erstmals die Person des Führers in den Mittelpunkt der Kritik rückte. Am 25. Januar hatte Adolf Hitler die Kapitulation der 6. Armee, die in Stalingrad hoffnungslos von der Roten Armee eingeschlossen war, abgelehnt. Am 31. Januar widersetzte sich General Friedrich Paulus, tags zuvor von Hitler zum Generalfeldmarschall befördert, dem Führerbefehl und kapitulierte. Am 3. Februar erklang im Radio der Anfang von Beethovens 5. Symphonie, es folgte eine Sondermeldung: »Der Kampf um Stalingrad ist zu Ende. Ihrem Fahneneide bis zum letzten Atemzug getreu ist die 6. Armee unter der vorbildlichen Führung des Generalfeldmarschalls Paulus der Übermacht des Feindes und der Ungunst der Verhältnisse erlegen … Generale, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften fochten Schulter an Schulter bis zur letzten Patrone. Sie starben, damit Deutschland lebe.« Die offizielle Lüge hielt nur wenige Tage, und es war eher eine Erleichterung, was durch Gerücht bekannt wurde: dass mit der Kapitulation 90 000 deutsche Soldaten in russische Kriegsgefangenschaft zogen. Die jedenfalls waren nicht den »Heldentod« gestorben, wie rund 100 000 deutsche Männer im Kampf um Stalingrad, während rund 42 000 verwundete Soldaten mit Flugzeugen aus dem Kessel ausgeflogen werden konnten.
Einen Tag vor der Sondermeldung hatte Sophie Scholl erfahren, dass der verwundete Fritz Hartnagel zu den Glücklichen gehörte, die eines der letzten deutschen Flugzeuge erwischten, deren Piloten im Kessel von Stalingrad auf den zerstörten Pisten und im Feuer der russischen Armee landen und starten konnten. Lina Scholl rief am 2. Februar sofort ihre Tochter an, nachdem Fritz Hartnagels Mutter ihr die gute Nachricht übermittelt hatte. Und Sophie Scholl, die gerade den Brief an Lisa Remppis ins Kuvert gesteckt hatte, nahm ihn wieder heraus und informierte die Freundin: »Fritz ist in Stalino im Lazarett, zwar werden ihm einige Finger, die Fersen vielleicht auch, abgenommen werden, doch er ist gerettet. Gott sei Dank!« Beim Ansturm von hunderten Verwundeten auf das Flugzeug hatte Fritz Hartnagel mit Mühe sein Leben retten können; seine wenigen Habseligkeiten, darunter auch Sophie Scholls Briefe nach Russland, blieben im Kessel von Stalingrad zurück. Doch wie unwichtig war das in diesem Augenblick. Eine Tür zur Zukunft tat sich auf für Sophie Scholl.
Am Stalingrad-Abend, dem 3. Februar 1943, hatten die drei Scholl-Geschwister ein Konzert im Bayerischen Hof auf dem Programm. Anschließend begleitete Hans Scholl seine Schwestern durch das verdunkelte München nach Hause. Gegen 23 Uhr ging er, wie schon beim Abendessen angekündigt, mit Alexander Schmorell zu einer Entbindung in die Frauenklinik. In Wahrheit lief nun eine konzertierte »Schmier-Aktion« ab. Schmorell hatte eine Schablone mit der Parole »Nieder mit Hitler« ausgestanzt, eine Dose Teer gekauft und im Atelier Eickemeyer grüne Farbe und Pinsel entwendet. Die Freunde gingen von der Franz-Joseph-Straße die wenigen Schritte zur Universität, wo Schmorell mit der Schablone die Aufschrift »Nieder mit Hitler« anbrachte, während Hans Scholl aufpasste. Dann zogen die Freunde in die Innenstadt zum Viktualienmarkt, wahllos wurde unterwegs »Nieder mit Hitler« an Wände gemalt. Auf dem Rückweg kamen sie nochmal an der Universität vorbei und schrieben freihändig mit großen Buchstaben »Freiheit« an die Mauern.
Unterdessen hatten sich Sophie und Elisabeth Scholl zu einem Spaziergang durch den Englischen Garten aufgemacht. In Elisabeths Erinnerung entspann sich folgender Dialog: »Meine Schwester sagte: ›Jetzt, in dieser Dunkelheit, müsste man Freiheitsparolen auf Mauern schreiben.‹ Ich erwiderte: ›Ich habe noch einen Bleistift in der Tasche.‹ Sophie lachte und klärte mich auf, dass man das
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