Sophie Scholl
Zeit waren im Atelier Eickemeyer in München wahrscheinlich die Folgen des Gesprächs-Abends schon beseitigt, zu dem Hans Scholl wieder einmal Freunde, Freundinnen und Bekannte eingeladen hatte. Und wieder provozierte er die Gesprächsrunde mit seinen Fragen. Am 27. Januar kam er »auf die Härte und Grausamkeit des Krieges und das Judenproblem zu sprechen« und fragte, »ob die katholische Kirche nicht dagegen auftreten müsse«? Hans Scholl, war wie alle aus dem kleinen Kreis der Flugblatt-Aktivisten übermüdet und angespannt und wusste, die folgende Nacht würde lang und risikoreich werden. Aber wahrscheinlich war es keine Alternative, einmal auszuschlafen, statt permanent unter Menschen zu sein. Das Stimmungs-Hoch durfte nicht absacken und die geistige Wachsamkeit nicht abschlaffen.
28. Januar – Am Abend steht ein Cello-Konzert auf dem Programm, »sehr ordentlich« nennt es Willi Graf in seinem Tagebuch. Und außerdem: »Heute arbeiten wir angestrengt. … Die Nacht sieht mich spät im Bett.« Genau genommen war es schon nach Mitternacht, wahrscheinlich ein Uhr morgens am 29., als Hans Scholl, Willi Graf und Alexander Schmorell nach ihrer »Streu-Aktion« noch einmal kurz in der Franz-Joseph-Straße zusammenkommen. Sophie Scholl war informiert und hatte ihren Bruder gebeten, mitmachen zu dürfen. Aber Hans Scholl war dagegen und so blieb Sophie Scholl zuhause.
Die drei Männer waren etwa um 23 Uhr losgezogen, jeder mit rund 500 Flugblättern ausgestattet. Sie hatten jeder einen Stadtteil übernommen, wo sie beim Gang durch die nächtlichen Straßen die Flugblätter in Hauseingänge, Tore und sogar Hinterhöfe legten. Die Bereitschaft zum wesentlich erhöhten Risiko hatte zwei Gründe. Der praktische: Die Briefmarken waren ausgegangen. Aber zweitens hofften die Vier, mit diesem Schritt in die Öffentlichkeit »auf die breite Volksmasse einzuwirken«, so Sophie Scholl im Verhör. Im Gegensatz zu den vier »Flugblättern der Weißen Rose« vom Juni/Juli 1942, die sich in Anrede und Sprache bewusst an eine intellektuelle Elite wendeten, tritt das Flugblatt vom Januar 1943 mit seinem Anspruch und seinem Inhalt deutlich anders auf. Es will mehr.
Das beginnt mit der Überschrift »Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland. Aufruf an alle Deutsche!« und endet mit der Forderung »Unterstützt die Widerstandsbewegung, verbreitet die Flugblätter!« Weiter gefasst über alle gesellschaftlichen und politischen Lager konnte der Aufruf nicht sein. Er ist prägnant formuliert und passt auf eine DIN-A-4-Seite. Er verzichtet auf Versatzstücke aus dem bildungsbürgerlichen Zitatenschatz und beschwört nicht die Macht des Bösen oder den apokalyptischen Untergang. In der Nachfolge der »Weiße-Rose-Flugblätter« wird der Aufruf vom Januar 1943 als fünftes Flugblatt gezählt. Was ihn mit den vorangegangenen verbindet, ist der eindeutige Hinweis auf die deutsche Schuld und die Aufforderung, den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Was ihn von den vorangegangenen unterscheidet, ist eine deutlich politische Ausrichtung – auf einen »vernünftigen Sozialismus« und auf ein »neues Europa«, ja geradezu auf globale Gerechtigkeit.
Hitler kann den Krieg nicht gewinnen, nur noch verlängern. Seine und seiner Helfer Schuld hat jedes Mass unendlich überschritten. … Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist? Sollen wir auf ewig das von aller Welt gehasste und ausgestossene Volk sein? Nein! Darum trennt Euch von dem nationalsozialistischen Untermenschentum! Beweist durch die Tat, dass Ihr anders denkt! … Trennt Euch rechtzeitig von allem, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhängt. …
Ein einseitiger preussischer Militarismus darf nie mehr zur Macht gelangen. Nur in grosszügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich sein wird. … Das kommende Deutschland kann nur föderalistisch sein. … Die Arbeiterschaft muss durch einen vernünftigen Sozialismus aus ihrem Zustand niedrigster Sklaverei befreit werden. Das Trugbild der autarken Wirtschaft muss in Europa verschwinden. Jedes Volk, jeder einzelne hat ein Recht auf die Güter der Welt! Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten, das sind die Grundlagen des neuen Europa.
DIE ZUKUNFT: PLÄNE WIE URWALDBLUMEN
29. Januar bis 14. Februar 1943, München und
Weitere Kostenlose Bücher