Sophie Scholl
wir müssen einfach, wenn wir an den Gott der Liebe glauben, auch den Glauben aufbringen, dass er uns hilft, uns löst von diesem Ich, diesem Gefängnis in sich selbst. … In den letzten Tagen habe ich einen Satz in dem Büchlein ›Vom Leben des Gebetes‹ von Jacques et Raïssa Maritain gelesen, der mich stark gepackt, ja beinahe erschreckt hat: ›Es ist unumgänglich notwendig, den selbstbeschaulichen Geist, den Geist der Rückbeziehung auf sich selbst, wie ein ganz schlimmes Laster zu fliehen.‹ Es bleibt uns in allem Wirrwarr, der mitunter in uns entsteht und der uns mit Recht bedrückt und ängstigt, schließlich doch die Gewissheit, dass Gott Mensch geworden ist, um uns zu erlösen.« Inge Scholls Fazit: »O Werner, als ich vor Tagen unter dem großen, klaren Sternenhimmel ging, unter dem auch Ihr alle seid, da musste ich die Jahrtausende zurückdenken, die die Menschen sich um die Wahrheit bemüht und sich gesehnt haben. Und da ist mir auf einmal das Wunderbare aufgegangen, dass Gott sich erbarmte und herabkam und sagte: Ich bin die Wahrheit.«
Auch Lina Scholl hat für ihren Sohn, dem sie seit Anfang 1943 fast täglich schreibt, den Trost des Glaubens bereit. So am 31. Januar, einem Sonntag: »Heute sagte der Prälat in der Predigt: Wen Gott segnen will, der muss ein Kämpfer sein. Es handelte von Jakob, wie er mit Gott gerungen hat und gesiegt. Und dann ging die Sonne auf! Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben.« Die Zweiundsechzigährige ist eine eifrige Leserin, nicht nur der Bibel. Durch ihre Kinder aufmerksam gemacht, schätzte Lina Scholl Kierkegaards Tagebücher sehr, die einen verwandten Frömmigkeits-Ton in ihr zum Klingen bringen. Fern von orthodoxer Enge, auch wenn die lutherische Kirche ihr Zuhause ist.
Im gleichen Brief kommt Lina Scholl auf Carl Muth zu sprechen. Sie hat den katholischen Publizisten, im Gegensatz zu ihren Kindern, noch nicht getroffen. Aber sie weiß, was er ihnen bedeutet; gerne teilt sie mit denen, die weniger haben. Werner Scholl erfährt: »Herr Muth hatte Geburtstag, Vater schickte ihm Wein, ich eine Henne und Mehl und weißgebackenes, gutes Brot.« Es ist gut, dass Lina Scholl den Brief nicht kannte, den Carl Muth genau zehn Tage zuvor an Otl Aicher geschrieben hatte.
Für Otl Aicher war es nichts Ungewöhnliches, sehr persönliche Gedanken und Briefe von Menschen, die ihm nahe standen, detailliert anderen mitzuteilen. Carl Muths Brief vom 21. Januar 1943 lässt darauf schließen, dass Otl Aicher den väterlichen Freund und Ratgeber ausführlich über die Tage informiert hat, die Sophie Scholl kurz vor Weihnachten mit ihm in Bad Hall verbrachte. »Über den Inhalt Ihres letzten Briefes sprechen wir am besten«, schreibt Muth, »Sophie hat für mich noch immer ein wenig Undurchschaubares. Da hat mir dann das, was Sie schreiben, einen Schleier von ihrem Wesen gehoben und ich fange an, sie mit anderen Augen zu sehen.« Dann bestärkt der überzeugte Katholik den einundzwanzigjährigen Otl Aicher in seinem vorsichtigen Missionierungs-Unternehmen: »Sie taten recht, das langsam Reifende nicht zu schneller Entfaltung zu treiben.« Das bezieht sich auf Sophie Scholl, für die Otl Aicher zuständig ist, zusammen mit Inge Scholl, die, wie Otl Aicher ihr in den emotionalen Wirren um die Jahreswende bestätigte, den nächsten Platz an seiner Seite hat. Zugleich ist Carl Muth seit dem Sommer 1942 für Inge Scholl ein verehrter Freund geworden, bei dem sie sich Rat in schwierigen persönlichen Situationen und in Glaubensfragen holt.
Nach dem kurzen Rat zu Otl Aichers behutsamem Einfluss auf Sophie Scholls religiöse Entwicklung offenbaren die folgenden Zeilen, dass die angestrebte Entwicklung der gesamten Scholl-Familie gilt und in Richtung Katholizismus gehen soll. Übrigens ist der Maler Wilhelm Geyer, den Muth erwähnt und der seit dem 11. Januar fast täglich mit Sophie und Hans Scholl in München-Schwabing zusammenkommt, Katholik: »Ich halte es auch mit Inge so, schon um zu verhüten, dass die Eintracht in der Familie getrübt werde. Herr Kunstmaler Geyer, der mich zur Zeit malt, erzählte mir von seinen Beobachtungen in der Familie Scholl, und ich schließe daraus, dass keines der Kinder jetzt schon oder in naher Zeit den entscheidenden Schritt tun darf, es sei denn, Gott gibt ein deutliches Zeichen.« Dann wendet sich Carl Muth den Eltern zu: »Der Vater ist ein fortschrittsgläubiger Rationalist, von gutem Herzen, und ebenso untadligem
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