Sophie Scholl
Charakter, aber weit vom Verstehen seiner Kinder entfernt. Die Mutter ist mit ihrer frühen Jugend und dem Diaconissenleben noch so verknüpft, dass es noch großer Erschütterungen braucht, wenn sie den Kindern folgen sollte, falls diesen die Gnade der Heimkehr zur Una Sancta zuteil werden sollte.«
Für Otl Aicher und Carl Muth – und manche Katholiken bis auf den heutigen Tag – gilt der Begriff der »einen heiligen Kirche« – Una Sancta – ausschließlich der römisch-katholischen. (Auch wenn sich die protestantischen Kirchen ebenfalls als Teil der Una Sancta verstehen, die allerdings für sie seit den Tagen des Urchristentums vielfältige Gestalt annimmt.) Nach dieser Fern-Analyse, den Stoff dazu muss ihm Inge Scholl geliefert haben, kommt der ältere Bruder an die Reihe: »Hans ist bis jetzt nur mit dem Kopf so weit, das Herz folgt noch nicht.« Das Urteil irritiert. Carl Muth kennt Hans Scholl nicht nur gut aus den Herbst- und Wintertagen, als er fast täglich in Solln war, um die Bibliothek zu ordnen. Muth hält große Stücke auf den jungen Mann, den er mit angesehenen katholischen Schriftstellern und Gelehrten zusammenbrachte. Hans Scholls glühende Bekenntnisse zum Kreuz, zum Leiden und zu Jesus Christus, die mit einem Bekehrungserlebnis zusammenhängen, lassen auf ein starkes emotionales Fundament seines Glaubens schließen. Offensichtlich sind sie aber nicht als deutliche Schritte in Richtung katholische Kirche zu interpretieren. Spricht aus Muth die Enttäuschung, dass seine Anstrengungen zu wenig Wirkung zeigen?
Sein Fazit: »Wahrscheinlich müssen die Schwestern vorangehen, vielleicht auch Werner. Fahren wir fort, für alle zu beten. Ich tue es täglich und habe mir als Schutzpatron dieser Familie den heiligen Thomas Morus gewählt.« (Der englische Staatsmann Thomas More wurde 1535 auf Befehl Heinrichs VIII. enthauptet, da er die Gründung einer eigenständigen anglikanischen Kirche und damit die Trennung vom Papst in Rom ablehnte.) Carl Muths Brief an Otl Aicher schließt: »Leben Sie wohl, mein Lieber, Gott segne Sie und leite Sie und führe Sie.«
Sophie Scholl sei für ihn undurchschaubar, urteilt Carl Muth. Traute Lafrenz, die viel mit ihr in privaten Situationen zusammen war, sogar zu Hause in Ulm, hatte das Gefühl, eine gewisse Distanz, ja Fremdheit sei unüberbrückbar. Es ist jener Eindruck, den Sophie Scholls Schulkameradinnen als Hochmut oder Arroganz auslegten, wo sich tatsächlich vieles mischte: Verschwiegenheit und die Scheu, sich anderen aufzudrängen; Verehrung und Bewunderung, die sie gegenüber Carl Muth oder Theodor Haecker klein und sprachlos machten. Allerdings gehört auch das Gefühl dazu, sich als Individuum mit besonderen Talenten und Begabungen und einer einzigartigen Prägung von der Masse abzusetzen. Wobei Sophie Scholl sich stets bewusst war, was das zugleich bedeutete: mehr Verantwortung und umfassendere Verpflichtungen und Anforderungen zu tragen – und bei Versagen größere Schuld auf sich zu laden.
Selbst im kleinsten Kreis der Familie, wo Solidarität und gegenseitiges Vertrauen oberstes, von niemandem angezweifeltes Gesetz waren, gab es unterschiedliche Gefolgschaften, Bündnisse, Paarbeziehungen. Inge und Hans, die beiden Ältesten, hatten innerhalb der Geschwistergruppe ein eigenes Verhältnis zueinander, und auf eine besonders innige Weise waren Sophie und Werner, die beiden Jüngsten, von klein auf miteinander verbunden. Aus Sophie Scholls Briefen an den jüngeren Bruder spricht die Vertrautheit seit Kindheitstagen. Was sie für sich selbst erstrebt und was ihr den stärksten Trost bedeutet, hat sie ihm in einem Brief aus Ulm am 10. Februar präzise beschrieben.
Sophie Scholl berichtet Werner, dass sie »Mutter, die schwer krank war«, im Haushalt unterstützt. Nebenher modelliere sie ihre Schwester Elisabeth, und beide »beschließen den Tag am Klavier mit einem Schubertlied«. Die Liebe zu Schubert hat Tradition bei den Scholls. »Wir haben Schubertlieder gesungen und neu gelernt, ach, Du solltest sie hören, sie sind wunderbar«, hatte sich Sophie Scholl am 29. Oktober 1939 in einem Brief an Fritz Hartnagel begeistert. In den Februartagen 1943 gibt es einen Favoriten: »Der Wanderer an den Mond«. Sophie Scholl findet dieses Lied »immer schöner«. Ihr liegt so sehr an seiner Vertonung und seiner Wirkung, dass sie – am 10. Februar – Werner Scholl Vers um Vers an ihren Empfindungen teilhaben lässt:
»Durch den ganzen ersten Teil der
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