Sophie Scholl
erdenschwere Schritt des Wanderers ›Ich wandre fremd von Land zu Land, so heimatlos, so unbekannt‹. Dann aber lösen sich die Akkorde auf in gebrochene, das klingt wunderbar frei und so rein, nicht der leiseste Schimmer irgendeiner Disharmonie noch überschwenglichen Gefühls: ›Du aber wanderst auf und ab von Ostens Wieg in Westens Grab‹. Und ein Schluss, den ich nicht beschreiben kann.« Sophie Scholls Fazit: »Es bleibt kein großes Gefühl, weder des Trostes noch der Entsagung. Und doch erfreut es so, und tröstet so wie eine makellose Blume, die blüht, weil sie blüht.«
Wer das Schubertlied »Wanderer an den Mond« hört, kann Sophie Scholls Übersetzung von Melodie und Rhythmus in ihr ideales Lebensgefühl Zeile für Zeile nachempfinden: Es ist, als ob gegen Ende die Töne des Klaviers auf der Stelle treten, und die Musik einen unbekannten Raum eröffnet, jenseits von Zeit und Stimmungen. Sophie Scholl schließt ihren Brief mit einem lapidaren Hinweis, der alle Hindernisse und Gefahren in Zeit und Raum überspringt. Über das wunderschöne Lied sagt sie ihrem Bruder, der fern an der russischen Front mitten in diesem dreckigen, tödlichen Krieg steckt: »Wenn Du kommst, singen wir Dir’s vor.« Ein Bild entsteht, einfach und von tröstender Kraft; ein Versprechen auf Heimat, das alle Sehnsüchte aufsaugt und die Zukunft sichtbar und fassbar macht.
Am gleichen Tag schreibt Sophie Scholl auch an Fritz Hartnagel. Der Brief ist ebenfalls auf die Zukunft ausgerichtet und davon überzeugt, dass es realistisch ist, auf die Zeit nach dem Krieg zu bauen: »Und wenn ich bisher zu müde war zum Pläne machen, weil sie ja doch durch den Krieg alle zu Schanden wurden, so schießen sie jetzt empor wie Urwaldblumen nach einem langen warmen Regen, so bunt und ungeheuerlich. Doch sie wollen mir gar nicht ungeheuerlich vorkommen, sondern alle sehr durchführbar.« Das Wiedersehen mit ihm sei diesmal anders als je zuvor: »So als würdest Du zurückkehren, um ganz dazubleiben.« Es will etwas heißen: Sophie Scholl, die sich Träumereien verbietet, ist voller Hoffnung in diesen Ulmer Februartagen. Das ist keine flüchtige Momentaufnahme. In ihrem Brief vom 13. Februar »steigen harmlose, farbenreiche Zukunftsträume auf«. Zwar entschuldigt sich Sophie Scholl sogleich bei Fritz Hartnagel, damit er nicht den Eindruck hat, sie freue sich nur wegen solch harmloser Pläne über »das nahe Ende des Krieges« – »nein, gewiss nicht«. Aber dass dieses Ende nahe ist, daran hat sie keinen Zweifel.
An diesem 10. Februar 1943, es ist ein Mittwoch, als Sophie an Werner Scholl und Fritz Hartnagel schreibt, bricht Inge Scholl mit Otl Aicher zu einer kleinen Fahrt durch Oberbayern auf. Die erste Station ist Aulendorf mit der Rieckschen Buchhandlung, über Ravensburg und Lindau geht es weiter nach München-Solln, wo die beiden Samstagnacht auftauchen und als Gäste von Carl Muth empfangen werden. Am Sonntagmorgen ruft Hans Scholl dort an. Er hatte für den Samstagabend Konzertkarten organisiert, das war ein Missverständnis. Heute, am Sonntag, habe er leider keine Zeit. Aber er werde ohnehin bald einmal wieder nach Hause kommen.
Bei Carl Muth hatten die Gäste erfahren, dass Otl Aichers Urlaub um vierzehn Tage verlängert worden war. Am Sonntagabend, dem 14. Februar, nach einem Besuch mit Otl Aicher bei Theodor Haecker, fährt Inge Scholl zurück nach Ulm. So war es mit Sophie Scholl ausgemacht, die an diesem Abend in Ulm in den Zug nach München steigt, für die letzten Wochen des Semesters. Otl Aicher hat entschieden, dank der unerwarteten Urlaubs-Zugabe noch ein paar Tage bei Carl Muth zu bleiben, um die angesprochenen »Themen zu vertiefen«, wie Inge Scholl nach der Rückkehr an Werner Scholl schreibt.
Als Sophie Scholl gegen 21 Uhr in München ankommt, wird sie am Bahnhof von Hans Scholl und Gisela Schertling in Empfang genommen. Bis 23 Uhr sitzen die Drei noch zusammen. Dann geht Gisela Schertling schlafen, in Sophie Scholls Zimmer. Sie hatte sich ohnehin während Sophies Abwesenheit in der Franz-Joseph-Straße einquartiert.
KALT UND KLAR WIE PERLENDES WASSER
15. bis 19. Februar 1943, München
Jetzt war Gelegenheit, Sophie Scholl darüber zu informieren, welche heimlichen Aktivitäten Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf während ihrer Abwesenheit entfaltet hatten. Am 8. Februar hatte Alexander Schmorell zufällig erfahren, dass Falk Harnack in München eine gemeinsame Freundin besuchte. Scholl und Schmorell
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