Sophie Scholl
Pritsche und schläft einige Stunden. An diesem Freitag findet kein weiteres Verhör statt. Nach dem Schlaf ist Zeit zum Nachdenken. Sich in dieser extremen Situation in Sophie Scholls Kopf und Herz zu versetzen, ist mehr als gewagt. Nur eine Annäherung scheint erlaubt, weil von großer Wahrscheinlichkeit: dass ihre Gedanken zu den Menschen gehen, die ihr Leben bisher begleitet haben und der sichere Grund waren, auf dem sie sich entfalten konnte – ihre Familie, ihr Zuhause in Ulm.
ICH BEREUE MEINE HANDLUNGSWEISE NICHT UND WILL DIE FOLGEN AUF MICH NEHMEN
19. bis 22. Februar 1943, Ulm und München
Am Freitagabend, 19. Februar 1943, kurz vor 23 Uhr, schreibt Lina Scholl in der Ulmer Wohnung an Werner, ihren jüngsten Sohn: »Heute besuchte uns Traute aus München – Hans bekommt keinen Urlaub über Sonntag, so wird auch Sofie nicht kommen. Heute fuhr Elisabeth nach Dürrnhof. – Bei uns ist zur Zeit fast Frühlingswetter – Fritz ist, wie Du weißt, in Lemberg. Seine beiden Finger wurden amputiert, und er muss noch im Bett bleiben wegen seiner erfrorenen Füße. Leider durfte er noch nicht nach Deutschland. Vater und Inge sind sehr fleißig im Büro, sie werden auch gut fertig. Otto kam heute von München-Solln zurück, sein Urlaub wurde um 14 Tage verlängert. Gesehen habe ich ihn seither nicht. Lass die Geduld nicht ausgehen, es geht, wie Gott es will. Das ist ein starker Trost und eine gute Zuversicht, wenns auch manchmal schwarz aussieht. Gott wills machen, dass die Sachen gehen, wie es heilsam ist. Lass die Wellen höher schwellen, wenn Du nur bei Jesus bist. Von Vater, Inge und Traute soll ich Dich herzlich grüßen; besonders herzlich grüßt Dich Deine Mutter. Eben ertönt der Alarm, gut, dass wir noch auf sind, es ist 11 Uhr. Hören tut man nichts.«
Der Brief ist es wert, ganz zitiert zu werden. Aus dem Rückblick liest man ihn fassungslos. Lina Scholl hat keine Ahnung, was seit anderthalb Tagen mit ihren Kindern Hans und Sophie geschieht. Das Bild von Sophie Scholl bei der Vernehmung und in der Zelle schiebt sich vor das Gottvertrauen, das die Mutter – für Werner und für sich – in die Zeilen eines bekannten pietistisch-barocken Kirchenliedes fasst. Aus der Distanz betrachtet, korrigiert und präzisiert der bisher unbekannte Brief Fakten, die bisher nur aus der Erinnerung oder gar nicht überliefert wurden.
Traute Lafrenz. Zusammen mit Willi Graf war sie am Donnerstag gegen 11 Uhr beim Verlassen der Universität Sophie und Hans Scholl begegnet. Während sie zur nächsten Vorlesung in die psychiatrische Klinik eilte, fragte sie sich zunehmend beunruhigt, was die beiden mit einem Koffer in der Universität wollten. So bald sie konnte, fuhr sie zurück in die Leopoldstraße und hörte von Hans und Sophie Scholls Verhaftung. Jahrzehnte später befragt, sagt Traute Lafrenz: »… am Samstag, bin ich dann, wie ich es auch beabsichtigt hatte, nach Ulm gefahren.« Lina Scholls Brief dokumentiert, dass es Freitag war. Eine Verwechslung der dicht gedrängten Tage voller Dramatik nach so langer Zeit verwundert nicht. Es nimmt dem, was sie von den Stunden vor ihrer Fahrt nach Ulm erzählt, nichts von seinem Wahrheitsgehalt; zumal Traute Lafrenz in ihren Erinnerungen stets um Nüchternheit bemüht ist. Vom Münchner Hauptbahnhof aus ruft sie vor ihrer Abfahrt in Ulm an und hat Inge Scholl am Apparat: »Ich fragte sie: ›Hör mal zu, was ist los? Wie geht es euch?‹ Ich befürchtete, dass die gesamte Familie schon verhaftet sein könnte. Aber sie sagte nur: ›Nein, hier ist gar nichts los, komm nur.‹« Traute Lafrenz, die nach dem Ende ihrer Beziehung mit Hans Scholl weiterhin mit der Familie Scholl befreundet blieb und immer mal wieder zu Besuch kam, wusste nun: Inge Scholl und die Eltern waren von der Gestapo nicht informiert worden. Sie war es nun, die die schreckliche Nachricht überbringen musste. Und Lina Scholls Brief sagt uns: An diesem Freitag brachte es Traute Lafrenz nicht übers Herz, in Ulm zu erzählen, was sich in München zugetragen hatte – den Eltern und Inge die Wahrheit zu sagen. Vielmehr erklärt sie das Fernbleiben von Sophie und Hans, die diesen Wochenendbesuch angekündigt hatten, mit der Urlaubssperre von Hans. Vielleicht klammert sich Traute Lafrenz auch an die winzige Hoffnung, dass die beiden freigelassen werden und sich melden.
Otl Aicher ist für Lina Scholl »Otto« geblieben. Auch zu seinem Verhalten in diesen Tagen bringt ihr Brief neue Teil-Informationen. Otl Aicher
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