Sophie Scholl
Auch in der Provinz sah man es nicht anders: »Das Bemerkenswerteste an der Wahl ist, dass die nationalsozialistische Welle im Abflauen begriffen ist. Die Nazis haben das erstemal einen bedeutenden Stimmenverlust zu verzeichnen, trotzdem ihr Führer Adolf Hitler noch nach Ulm kam und in der größten Wahlkundgebung, die jemals in Ulm stattgefunden hat, für seine Sache geworben hatte.« So analysierte die Ulmer SPD-Zeitung »Donauwacht« am Tag nach der Wahl die Lage.
»Montag, den 30. Januar 1933«, schreibt Inge Scholl am Abend in ihr Tagebuch, »jetzt ist Hitler ans Ruder gekommen. Ich glaube, dass sich im ganzen Volk eine furchtbare Spannung gelöst hat. Ich weiß nicht, ob das wahr ist, aber ich habe so ein Gefühl.« Ihr Gefühl trog sie nicht. Und warum sollte das Volk nicht erleichtert aufatmen, da alles so legal, so friedlich vonstatten ging. Der 86jährige Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Dem Parteivorsitzenden der NSDAP wurde die Macht überantwortet, freiwillig übergeben, in der Überzeugung – so die konservativen Drahtzieher dieses überraschenden Manövers –, dass er in der Regierungsverantwortung in kürzester Zeit politisch untergehen würde. Wieder wurde Hitler, der fest entschlossen war, eine Diktatur zu errichten, sträflich unterschätzt.
Im kollektiven Gedächtnis ist vom 30. Januar 1933 in Erinnerung geblieben der abendliche Fackelzug der SA-Männer durch Berlin, vorbei an der Reichskanzlei; ein gerührter Adolf Hitler am Fenster. Vieles in diesen Stunden war inszeniert, um die Unentschlossenen mitzureißen, die Gegner des Nationalsozialismus einzuschüchtern, die Anhänger aufs Neue zu mobilisieren. Aber nicht alles war Show. Unbekannte fielen sich auf der Straße um den Hals. Eine Feiertagsstimmung ergriff das Land, und mancher Skeptiker dachte: Soll er sie haben, seine Chance; um so schneller ist der ganze braune Spuk vorbei.
Mit seinem Sinn für die Gunst der Stunde und seiner Entschlossenheit, die ihm gegebene Macht über alle Maßen auszunutzen, setzte Reichskanzler Hitler schon am nächsten Tag gegen alle Widerstände durch, dass der Reichstag aufgelöst und Neuwahlen für den 5. März angesetzt wurden. Einen Tag später startete er eine Großoffensive, um das bürgerliche Lager für seine Ziele zu gewinnen – an der Wahlurne, ganz legal. Der neue Reichskanzler gab sich staatsmännisch und volksnah zugleich. Nur zwei Tage im Amt, verlas Adolf Hitler selbst am 1. Februar 1933 im Rundfunk den Aufruf seiner neuen Regierung. Er beschwor die Einheit des Volkes, berief sich auf das Christentum als Basis aller Moral und auf die Familie als Keimzelle des Staates. Alle sollten sich angesprochen fühlen – bis auf eine Ausnahme: »Deutschland darf und wird nicht in anarchistischem Kommunismus versinken.« Am Ende der Rede wurde Hitler zum Hohenpriester: »Möge der allmächtige Gott unsere Arbeit in seine Gnade nehmen, unseren Willen recht gestalten, unsere Einsicht segnen und uns mit dem Vertrauen unseres Volkes beglücken. Denn wir wollen nicht kämpfen für uns, sondern für Deutschland.« An diesem Tag hat Adolf Hitler vielen Deutschen aus dem Herzen gesprochen. Nicht nur an diesem.
Am 10. Februar legte er im Berliner Sportpalast nach, variierte die einfache, aber unwiderstehliche politische Grundmelodie, die seinen gesamten Wahlkampf durchzog. Adolf Hitler stellte sich dar als Werkzeug Gottes in seinem gnadenlosen Kampf gegen den gottlosen Marxismus, der Schrecken aller Bürger, seit Karl Marx 1848 sein »Kommunistisches Manifest« geschrieben und den Klassenkampf ausgerufen hatte. Marxisten waren nach Hitlers Deutung Kommunisten, ebenso wie Sozialdemokraten: »Die Parteien dieser Klassenspaltung aber mögen überzeugt sein, solange der Allmächtige mich am Leben lässt, wird mein Entschluss und mein Wille, sie zu vernichten, ein unbändiger sein. Niemals, niemals werde ich mich von der Aufgabe entfernen, den Marxismus und seine Begleiterscheinungen aus Deutschland auszurotten.« Vernichten, ausrotten – Vokabeln, die nicht zum freiheitlichen Menschenbild passen, für das Friedrich Schiller so beredt eintrat; der Klassiker, dessen Bände die Regale der Bürger füllten, dessen Büste auf vielen Büfettschränken stand.
Doch Hitlers Mischung wirkte, auch auf die fünfzehnjährige Inge Scholl: »Die Kommunisten wollten ja diese Woche einen Bürgerkrieg machen, es ist ihnen aber nicht gelungen. Gott sei dank. Das
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