Sophie Scholl
häuslichen Singen mit den Brüdern Hans und Werner wurden Inge, Liesl und Sophie Scholl mit dem Liedgut der Jungen-Bünde vertraut.
An den Anfang des Tagebuchs hatten die Eltern »der lieben Inge« ein Motto geschrieben: »Wisse, ein erhabner Sinn / Legt das Große in das Leben, / Und er sucht es nicht darin.« Dass der Verfasser dieser Zeilen – Friedrich Schiller – nicht genannt wird, lässt vermuten, dass es sich um einen elterlichen Spruch handelt, der den Scholl-Kindern wohlbekannt war. Kein Dichter wurde seit Generationen in liberalen bürgerlichen Familien so verehrt wie Friedrich Schiller; er rangierte weit vor Goethe. In Schillers Überzeugung, dass der Einzelne sich keinem blinden Schicksal beugen muss, sondern aus freiem Willen sein Leben gestalten und Großes daraus machen kann, fand vor allem Robert Scholl sein Weltbild wieder. Was Goethe Schillers »Evangelium der Freiheit« nannte, ist die Lebens-Richtschnur, die er seinen Kindern zu vermitteln suchte; der Geist, in dem alle Scholl-Kinder erzogen wurden. Die Erwartungen an die älteste Tochter, an deren sechzehntem Geburtstag zu Papier gebracht, verschmelzen wörtlich mit einem Brief von Hans Scholl an seine Eltern im Dezember 1937: »Ich fühle jetzt erst ganz den Willen meines Vaters, den er selbst hatte, und den er mir übergab: etwas Großes zu werden für die Menschheit.«
Solches Handeln setzt nach Schiller einen »erhabnen Sinn« voraus. Ein altmodischer, fremder Begriff, den der Philosoph Immanuel Kant, ein Zeitgenosse des Dichters, verständlich übersetzt hat: »Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist, … das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist.« Auch diese Überzeugung der Eltern spricht aus ihrem Schiller-Zitat: Ihre Kinder hoben sich ab von der Masse; gehörten, nach modernem Sprachgebrauch, zur Elite. Das war kein Grund zum Hochmut, vielmehr eine große Verantwortung; darin lag die Verpflichtung für jeden Einzelnen, Vorbild zu sein, ein hohes Ziel. Wie eine Bekräftigung klingt der stolze Satz Inge Scholls über ihre Geburtstagsfeier: »Wir ganz allein.«
Friedrich Schillers idealistisches Bild vom Menschen, das die Eltern ihrer Tochter mit auf den Weg geben, erscheint wie ein Gegenprogramm zur politischen Lage im Herbst 1932, zur Welt draußen, wo die braunen Stoßtrupps mit dem Ruf durch die Straßen marschieren: »Du bist nichts, dein Volk ist alles.« Immer mehr zeigte sich: Das beeidigte Versprechen Adolf Hitlers, nur auf legalem Wege die Regierung zu übernehmen, war taktischer Natur. Immer brutaler provozierten die Schlägerkolonnen der NSDAP Straßenkämpfe und Saalschlachten, bei denen im Laufe des Jahres 1932 allein 139 Arbeiter getötet wurden. Ende Juli, im Wahlkampf für den nächsten Reichstag, rief der Vertreter der NSDAP auf einer Kundgebung in Kassel den Verteidigern der Weimarer Republik zu: »Ich sage euch, euch wird nichts geschenkt, ihr Lumpen und Volksverräter! Ich garantiere diesen Schweinehunden, dass sie gehenkt werden, und wir werden sie so lange hängen lassen, bis die Krähen sie gefressen haben.«
Bei der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 gaben 13 779 111 Wählerinnen und Wähler ihre Stimme Adolf Hitler und seiner NSDAP, die ihre Führung als stärkste Fraktion im Reichstag von 18,3 Prozent im Jahre 1930 auf 37,4 Prozent ausbaute. Wie in den Wahlen zuvor lag die NSDAP in Ulm – eine »Hochburg der Bewegung« – mit 38,2 Prozent über dem Reichsdurchschnitt. Robert Scholl gehörte zu denen, die sich Sorgen machten über die Zukunft der Republik. Sophie Scholl sagte bei der Gestapo-Vernehmung am 18. Februar 1943: »Mein Vater war meines Wissens parteipolitisch vor der Machtübernahme in keiner Weise gebunden. Soviel weiß ich jedoch, dass er demokratisch eingestellt ist, d. h. die Meinung vertritt, dass die Völker demokratisch regiert werden müssten …« Über Robert Scholls Beitrag zu den Diskussionen am Familientisch im Sommer und Herbst 1932, während die Rufe nach einem Führer immer lauter wurden und die Verachtung freiheitlicher Grundrechte immer breitere Kreise erfasste, kann es keine Zweifel geben.
Die Scholls waren eine offene, kommunikative Familie, gerade weil sie eine kompakte Gemeinschaft bildeten, in der Vertrauen und Vertrautheit fundamental waren – das betraf die Geschwister untereinander wie das Verhältnis der Eltern zu den Geschwistern. Solche Verbundenheit schloss mit dem Heranwachsen der Kinder heftigen Streit und emotionale Konflikte nicht aus
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