Sophie Scholl
freudiger Häme, hatte doch Stalin selbst die Sozialdemokraten als Sozialfaschisten diffamiert. Der KPD bereitete ein Zusammengehen mit der NSDAP keine Skrupel, zum Beispiel im Sommer 1931, um die sozialdemokratische Regierung in Preußen zu stürzen, wichtigstes Bollwerk der Demokratie gegen die ansteigende braune Flut im Reich. Das durchsichtige Manöver blieb erfolglos. Aber wie lange noch? Im Januar 1932 schrieb die »Rheinische Zeitung«, die SPD habe »im furchtbarsten Krisenwinter, unter schwerster Verantwortung, verleumdet und gehetzt, rechts und links die ganze wilde Meute gegen sich«.
Im Winter 1931/32 war die Zahl der Arbeitslosen auf über 5,6 Millionen gestiegen. Die Regierung Brüning hangelte sich von einer Notverordnung zur andern und sparte eisern; das war gut gemeint, doch es strangulierte – nach heutigen Erkenntnissen – die Volkswirtschaft nur noch mehr. Die Zukunft sah düster aus, als Robert und Lina Scholl mit Inge und Hans, Elisabeth, Sophie und Werner im März 1932 von Ludwigsburg nach Ulm zogen, in die ehemalige Reichsstadt an der Donau, wo das filigrane gotische Münster und die mächtigen Fachwerkhäuser von einer langen, stolzen Vergangenheit kündeten.
EINE NEUE ZEIT: AUFREGEND, STREIT STIFTEND
April 1932 bis Mai 1933
Zusammen mit Sophie Scholl, die am 9. Mai elf Jahre alt wurde, gingen nach dem Umzug ab April 1932 täglich ihre beiden älteren Schwestern Inge und Liesl in die Ulmer Mädchenoberrealschule. Was die Frauenvereine der Stadt im Februar 1927 mit einer Eingabe beim Gemeinderat angestrebt hatten – »dass die Mädchenrealschule, welche bisher die Mädchen bis zur mittleren Reife ausbildet, als Vollanstalt mit der Möglichkeit der Maturität im Sinne einer Oberrealschule ausgebaut wird« –, war 1931 Realität geworden. Dreißig Schülerinnen zogen in die erste Oberstufenklasse ein. Wenn Robert und Lina Scholl für ihre Töchter die einzige Mädchenschule mit Abitur in Ulm wählten – Hans und später Werner gingen auf die Oberrealschule für Jungen –, gehörten sie in ihrer Zeit zu den fortschrittlichen Eltern.
Für die ersten Ulmer Jahre haben sich keine Dokumente erhalten, aus denen Sophie Scholl zu uns spricht; aber es gibt indirekte, wie ihre Schulzeugnisse. Beim ersten in der Klasse Ib der Mädchenoberrealschule vom Herbst 1932 werden außer »gut« in den drei Kopfnoten »Verhalten, Fleiß, Aufmerksamkeit« ihre Kenntnisse in Religion, Deutsch, Heimat- und Erdkunde, Rechnen und Mathematik, Naturgeschichte, Zeichen- und Kunstunterricht mit »gut« bewertet; »befriedigend« erhält sie in Französisch, Musik, Handarbeit, Leibesübungen und Schreiben. Damit belegt Sophie Scholl »unter 31 ordentlichen Schülerinnen den 4.–6. Platz«, eine gute bis sehr gute Schülerin.
Im August, als Sophie ihr Zeugnis bekommt und die Ferien beginnen, feiert die älteste Schwester Inge ihren fünfzehnten Geburtstag. Am 12. August macht sie den ersten Eintrag in das Tagebuch, das die Eltern ihr geschenkt haben: »Gestern haben wir Geburtstag gefeiert. … Keinen Menschen haben wir eingeladen. Wir ganz allein.« Für Inge Scholls Lebensgefühl sind Gäste unerwünscht. Ihr ist die verschworene Gemeinschaft, die autarke Familien-Insel, genug. Alle haben sie nachmittags um den festlich gedeckten Tisch gesessen, denn der Geburtstagskuchen von Lina Scholl hat Tradition. Ebenso Tradition hat in dieser Familie der Gesang: »Nachher haben wir noch aus Hansens neuem Jungvolk-Buch gesungen. Da sind doch feine Lieder drin.«
Hans Scholl, der im September vierzehn wurde, war inzwischen Mitglied im CVJM (Christlicher Verein Junger Männer, seit 1855 eine weltweite evangelische Jungen-Organisation) geworden; der neunjährige Werner einer Jungschar der Bündischen Jugend beigetreten. Eine breite Palette von Jungen-Gruppen hatte nach dem Ersten Weltkrieg das Erbe der Jugend- und Wandervogelbewegung aus Kaisers Zeiten angetreten. Von radikal nationalistisch und autoritär bis zu einem offenen, kosmopolitischen Lebensstil reichte die Bandbreite. Alle verband der Protest gegen die Erwachsenenwelt, alle pflegten ein intensives Gemeinschaftsgefühl. Alle waren beseelt vom Misstrauen gegenüber Demokratie und Parteien und Kompromissen; es ging um Bewährung und Kampf und »vaterländische Gesinnung«. Mit wenigen Ausnahmen waren es reine Jungen-Gemeinschaften; selbst für parallele Mädchen-Gruppen ließ die männer-zentrierte Ideologie der Jugendbewegung keinen Raum. Aber beim gemeinsamen
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