Sophie Scholl
Zugleich hatte die Propagandamaschine der NSDAP in großen wie kleinen deutschen Städten zeitgleich ein Parallelprogramm auf die Beine gestellt – unter begeisterter Teilnahme der Bevölkerung. Am »Tag nach Potsdam« schreibt Inge Scholl in ihr Tagebuch: »Gestern wurde der neue Reichstag gegründet. Schulfrei natürlich!!! Große Parade und Feldgottesdienst auf dem Münsterplatz und große Putzerei zu Hause. Abends Fackelzug, beinahe eine halbe Stunde lang.« Zuerst ein Blick nach Potsdam.
In der Garnisonkirche, über den Gräbern der Preußenkönige, verbeugt sich der Reichskanzler Adolf Hitler beim Handschlag tief vor dem greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg – das alte Deutschland gibt die Staffette weiter an den Mann, der versprochen hat, Deutschland zu neuer Macht und Größe zu führen. Während des Festaktes predigt Otto Dibelius, Generalsuperintendent der Kurmark, über die Verheißung des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom: »Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?« Der Repräsentant der lutherischen Kirche mahnt die Politiker an ihre Verantwortung: »Staatliches Amt darf sich nicht mit persönlicher Willkür vermengen!« Aber anschließend stellt er der Obrigkeit einen Freibrief aus: »Ein neuer Anfang staatlicher Geschichte steht immer irgendwie im Zeichen der Gewalt. … Und wenn es um Leben und Sterben der Nation geht, dann muss die staatliche Macht kraftvoll und durchgreifend eingesetzt werden, sei es nach außen oder nach innen.« Tausendfach wird in diesen Stunden in Kirchen und auf öffentlichen Plätzen Gottes Segen über Adolf Hitler herabgefleht und seine Mission als Gottes gnädiges Eingreifen in die deutsche Geschichte gefeiert.
Ulm: Im Herzen der Stadt, vor der grandiosen Kulisse der mittelalterlichen Kathedrale, dem Ulmer Münster, beginnt um 12 Uhr der Aufmarsch von Armee, Polizei, NS-Trupps, Jugendverbänden, vaterländischen Vereinen. Zu Zehntausenden strömen die Bürger herbei, um den Feldgottesdienst zu erleben. Nach dem Eingangschoral hallt die Predigt des evangelischen Stadtpfarrers Gustav Oehler über den weiten Platz: »Deutsche Männer und Frauen! Deutsche Christen! Stürme brausen durchs deutsche Volk. Es kracht und ächzt in allen Ästen der deutschen Eiche. … Da und dort fällt dem Sturm auch ein gesundes Reis zum Opfer unter all dem Dürren. Das kann wohl – zu unserem Schmerz – nicht anders sein. Aber wir hoffen und glauben, dass es dennoch der Frühlingssturm ist, dem das neue Leben alsbald folgt. … Darum empfinden wir, die Glieder eines 14 Jahre lang in endlosen Parteien und Parteilein zersplitterten Volkes, es wirklich wie das Wehen eines herrlichen Geistes, dass nun der große Teil unseres Volkes sich in einem Wollen und einem Streben zusammengefunden hat. … darum ist der wunderbare Anfang dieser Einheit ein Gottesanfang.«
Der Ulmer Pfarrer Oehler beschwört ein »neues Deutschland«, das »um der inneren Sauberkeit willen das Lügenversprechen von Versailles« zurückgewiesen habe. »Was irgend wahr und groß gewesen in deutscher Vergangenheit«, soll hervorgeholt werden, und bekämpfen soll man »alle unzüchtige, unehrenhafte Bücherschreiberei, Malerei, Musik und Schaustellung, durch welche eine krankhafte Phantasie um schnöden Geldes willen unseres Volkes Seele vergiftete«. Der Repräsentant der lutherischen Kirche in Ulm schließt mit einem prophetischen Ruf an die Menge: »Das Gottesreich auf Erden / trotz Feindes Trug und List und Macht / es muss doch unser werden.« Der Weg ins Dritte Reich, am 21. März 1933 endgültig eingeschlagen, führte nach dem Verständnis dieser Predigt – und vieler anderer – ans Ziel aller christlichen Verheißungen: der Errichtung des Gottesreiches auf Erden. Niemand, so die Konsequenz, konnte sich guten Gewissens diesem Aufbruch verweigern.
»Abends Fackelzug« notiert Inge Scholl. In der Dunkelheit marschieren – mit brennenden Fackeln in der Hand die einen, mit Hakenkreuzfahnen die anderen – die Abteilungen der SS, SA, Reichswehr, Polizei, Turnvereine, der Bauernbund, die christlichen Vereine, darunter auch der CVJM mit großem Spielmannszug – war Hans Scholl dabei? –, sternförmig auf den Münsterplatz zu. Wieder stehen zehntausende Ulmer und Ulmerinnen Spalier. Der Abend mit seiner Inszenierung gehört der Partei des Führers, Triumph- und Machtdemonstration in einem. »Das Volk ist auferstanden«, donnert Eugen Maier vom Rednerpult. Die Schande der letzten elf Jahre werde mit
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