Sophie Scholl
singt ein Schülerchor »Flamme empor!«, während der Holzstoß angezündet wird. Im Licht der hell und hoch lodernden Flammen tritt der Stadtpfarrer am Ulmer Münster, Ernst Schieber, vor das Mikrofon und spricht »Worte am Feuer«: »So lasst uns denn nun herzlich bünden, / so lang die Flamme loht und brennt; / lasst auch in uns das Feuer zünden, / empfangt es wie ein Sakrament. / Es lebt in uns ein tiefes Wissen / und brennt und treibt uns sehnsuchtsvoll, / dass unser Volk, so lang zerrissen, / ein Leib, ein Acker werden soll. / So schließen wir den Ring der Hände, / so schließen wir den heil’gen Bund / und unser Anfang, unser Ende / steht beides in des Lebens Grund.« Es folgt eine lange Predigt, in der die Umstehenden aufgefordert werden, »alles einzusetzen, dass nie wieder über dem Reichstag die Brandfackel lodert und dass nie wieder über der Reichshauptstadt Verderben ausgesät« werde. Im Klartext: nie mehr wieder soll es eine Republik, nie mehr demokratische Parteien in Deutschland geben. Und der evangelische Pfarrer zieht einen Bogen vom Christengott zur germanisch-heidnischen Sonnwendfeier, an der er aktiv beteiligt ist, dem »alten Brauch, den die deutsche Jugend wieder begonnen hat. Darin liegt die Sehnsucht nach einem neuen Verständnis und neuer Ehrfurcht vor den Ordnungen Gottes«.
Der geistliche Zuspruch für das NS-Fest war der Beginn eines langen Rituals. Noch einmal das Tagebuch: »Es wurde für alle, die für’s Vaterland gestorben waren, ein Kranz verbrannt und dabei spielte die Musikkapelle ›Ich hatt’ einen Kameraden‹. Es war sehr spät, als wir heimkamen.« Tatsächlich marschierten von der Feuerstätte im Fort Albeck, im Gleichschritt und bei Fackelschein, alle Gruppen zurück zum Münsterplatz, wo Kreisleiter Maier eine Rede hielt, bevor das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied gesungen wurden. Schlusspunkt im Programm: »Zusammenwerfen sämtlicher Fackeln.« Dann erst ging es nach Hause für Inge und Hans Scholl. »Todmüde legte ich mich ins Bett und träumte von Forchtenberg«, endet der Tagebucheintrag.
Täglich lernte Inge neue Lieder, die sie ausführlich zitiert: »Heil Hitler dir, sing heil dem Vaterland! … Das Lied vom braunen Hemd … Volk ans Gewehr!« Eines Tages konnte die Mutter nichts mehr hören von all diesen Emotionen, dieser Bewunderung und diesem Eifer für einen Mann, den Lina und Robert Scholl für Deutschlands Unglück hielten; der in ihren Augen ein politischer Rattenfänger war und, zusammen mit Millionen Deutschen, auch ihre Kinder verführte. Es kommt zu einem kurzen Wortwechsel zwischen der Mutter und ihrer Ältesten. Dem Tagebuch vertraut Inge Scholl am 26. Juli ihren Schock an:
»Mutter sagte: ›Ob wohl Hitler auch noch ein Opfer bringen muss?‹ Ich sagte: ›Hitler hat schon so viele Opfer gebracht. Hat er nicht sein ganzes Leben auf’s Spiel gesetzt?‹ Da zuckte sie ganz geringschätzig die Schultern. Und das tut mir weh. … Ich war nachher so betäubt. Ich hatte einfach keine Freude am Leben mehr. … Mutter versteht mich gar nicht mehr gut. Die Kluft zwischen uns beiden wird immer größer. Ich glaub’ manchmal, sie will mich auch nicht immer verstehen.« Eine Woche zuvor hatte Lina Scholl zugestimmt, dass Inge dem Bund Deutscher Mädel beitrat. Überzeugung stand nicht dahinter, das wusste die Tochter. Die Eltern ließen sich in ihrer kritischen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus nicht beirren, auch wenn der Streit um dieses Thema zwischen Mutter und Tochter anders verlief als zwischen Vater und Sohn.
Am 18. Juni hatte Inge Scholl zur Selbstvergewisserung ins Tagebuch geschrieben: »Nachher hatte Vater Auseinandersetzungen mit Hans über die Hitler-Jugend. Natürlich kam es wieder zu Tränen. Das ist einfach Hans’ wunder Punkt. Da lässt er sich einfach nichts gefallen. Das gefällt mir. Ich saß am Klavier und spielte so fest, so laut als möglich: ›… das Vaterland muss aus dem Leid genesen, weil Du uns führst. … Ein Adolf Hitler wird die Wege bahnen‹«. Auch diese lautstarke Kraftprobe zwischen Vater und Sohn nebst der Solidarität der beiden ältesten Geschwister, die sich dem elterlichen Willen nicht mehr beugen, wird Sophie Scholl nicht entgangen sein. Die Faszination der neuen Zeit lag in den geschickt propagierten Idealen und der Möglichkeit, in den NS-Jugendorganisationen aktiv, kämpferisch und in eigener Regie für diese Ideale einzutreten. Dieser idealisierte Einsatz passte bestens in das
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