Sophie Scholl
Verwirrende, Unruhige, Aufwühlende der Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein, wo Jugendliche sich selbst und neue Lebensweisen erproben wollen, auf der Suche nach Sinn und Herausforderung sind.
Tagebuch Inge Scholl vom 28. Mai, mitten in den Pfingstferien: »Heute gab es eine Schlägerei zwischen Hitlerjugend und katholischem Jugendbund. Hans kriegt noch mehr ab.« An diesem Wochenende hatte die Evangelische Kirche ihren Bezirksjugendtag in Ulm abgehalten, und am Sonntag bekräftigte der Katholische Jungmännerverband des Bistums Rottenburg zusammen mit rund 10 000 Menschen im Ulmer Stadion demonstrativ seine Treue zu Bischof und Kirche und damit seine Entschlossenheit, unabhängig zu bleiben und sich mit keiner NS-Organisation gleichschalten zu lassen. Beim anschließenden Bekenntnismarsch trugen die Jungmänner eine Hakenkreuzfahne, um den Hitlerjungen am Straßenrand vorzuführen, dass man für den neuen Staat eintreten könne, ohne ihr braunes Hemd zu tragen – eine gezielte Provokation. Als die HJ vergeblich »mit allem Nachdruck« forderte, die Fahne zu entfernen, kam es zum Handgemenge. Hitlerjungen, darunter offensichtlich Hans Scholl, versuchten, der katholischen Konkurrenz die Fahne zu entreißen.
Das war der neue Stil, den die braunen Machthaber der Volksgemeinschaft verordneten: Intoleranz statt friedlichem Miteinander, Ausgrenzung statt Kompromiss; und wer nicht hören wollte, bekam den neuen Geist zu fühlen. Was nach Parolen für pubertierende Jugendliche klingt, wurde von Erwachsenen, die Rang und Namen in der Gesellschaft hatten, abgesegnet: »Das bürgerliche Zeitalter wird liquidiert, und es ist die Verheißung einer besseren Zukunft, dass es mit rücksichtsloser Entschlossenheit und dem Mut zur äußersten Konsequenz geschieht.« Es ist Ernst Forsthoff, Professor für öffentliches Recht in Frankfurt am Main, der 1933 in seinem Buch »Der totale Staat« mit diesen Worten für das Faustrecht im menschlichen und staatlichen Miteinander plädiert. Das war die Mehrheitsmeinung, und so regte niemand sich auf, als am 14. Juli 1933 der Reichstag ein Gesetz verabschiedete, das die Neubildung von Parteien verbot. Längst sind alle demokratischen Parteien aus der Zeit der Weimarer Republik verboten oder haben sich freiwillig aufgelöst. Unter Führung der NSDAP ist Deutschland nun auch offiziell ein Ein-Parteien-Staat.
Am 20. Juli schließt der Vatikan in Rom feierlich ein Konkordat mit der Regierung Hitlers ab. Damit wird die NS-Regierung außenpolitisch salonfähig, und Hitler, der sich vehement in die Verhandlungen eingeschaltet hatte, genießt innenpolitisch einen kaum zu überschätzenden Triumph. Im Kern geht es um ein politisches Tauschgeschäft: Die deutsche Regierung sichert den Bestand der katholischen Konfessionsschulen und der katholischen Jugendarbeit zu, der Vatikan verbietet im Gegenzug allen Ordensleuten und Priestern, sich weiterhin parteipolitisch zu betätigen. Damit war der politische Katholizismus in Deutschland, den Adolf Hitler als stärkste geschlossene Gegenkraft fürchtete, erledigt. Schon vierzehn Tage zuvor hatte sich die katholische Zentrumspartei, in der Ordensleute und Priester seit Bismarcks Zeiten mitarbeiteten, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den römisch-katholischen Autoritäten selbst aufgelöst.
Es gab einige Katholiken, die entsetzt waren über den Frontenwechsel ihrer Kirche, die bis zu den Reichstagswahlen im März ein imponierendes Bollwerk gegen den Nationalsozialismus bildete. Auch einige Bischöfe hatten hinter verschlossenen Türen gewarnt, mit einer totalitären Regierung einen solchen Handel einzugehen. Doch das waren winzige Inseln in der immer noch ansteigenden Flut der Begeisterung für einen Mann, der alles, was er anfasste, zum Erfolg brachte. Der Hitler-Mythos wuchs und wuchs. Die überwältigende Mehrheit der Deutschen genoss unbeschwert den Sommer des Jahres 1933, wie sich der US-Historiker William Shirer, damals Korrespondent in Berlin, erinnerte: »Die Menschen in diesem Land schienen überhaupt nicht zu spüren, dass sie von einer gewissenlosen und brutalen Diktatur geknebelt und niedergehalten wurden. Im Gegenteil, sie unterstützten sie mit aufrichtiger Begeisterung. Auf irgendeine Weise schien sie sie mit neuer Hoffnung und neuem Vertrauen zu erfüllen und mit einem erstaunlichen Glauben an die Zukunft ihres Landes.«
Aufrichtige Begeisterung: Nichts trifft die Gefühlslage besser, die sich in Inge Scholls Tagebuch-Eintragung
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