Sophie Scholl
spiegelt, als sie im September auf die »wunderschönen Ferien im lieben alten Forchtenberg« zurückblickt. Gleich am ersten Abend besucht sie die BDM-Gruppe. An einem anderen Abend hört sie einen »Vortrag über Hitler, ganz ergriffen, alle sangen Volk ans Gewehr«. Hans Scholl kommt auch, und beide fahren sie mit dem Rad zur Verwandtschaft nach Backnang. Dort treffen sie Liesl, mit der Inge zurück nach Forchtenberg fährt, während Hans Scholl ins Rheinland weiterreist. Kein Wort über Sophie Scholl; die Wege der älteren und jüngeren Geschwister sind noch getrennt. Nach dem traditionellen Muster ist Sophie Scholl wieder bei Tante Elise in Backnang, trifft sich mit ihrer Freundin Lisa Remppis in Langenburg an der Jagst, und beide verbringen anschließend noch gemeinsame Zeit in Ulm.
Anfang September ist großes Manöver der Reichswehr um Ulm herum. Hitler reist an und wird in der Stadt triumphal empfangen. »Wir hatten auch Einquartierung«, schreibt Inge Scholl zu diesem Anlass. Es war noch die alte Wohnung. Gegen Ende des Monats ist Umzug in eine neue, Olgastraße 81. Sie liegt wesentlich näher zum Zentrum und hat den Vorteil, dass es dort auch Räume für Robert Scholls Büro gibt. Das Haus gehört dem jüdischen Kaufmann Jakob Guggenheimer, und es wohnen dort zwei weitere jüdische Familien; die Scholls halten zu allen gute Nachbarschaft.
Von den NS-Liedern, die Inge Scholl im Tagebuch erwähnt, gehört »Volk ans Gewehr« zu ihren Favoriten: »Siehst du im Osten das Morgenrot, / ein Zeichen zur Freiheit zur Sonne. / Wir halten zusammen, ob lebend, ob tot, / mag kommen, was immer da wolle. / Warum jetzt noch zweifeln? Hört auf mit dem Hadern. / Noch fließt uns deutsches Blut in den Adern. / Volk ans Gewehr, Volk ans Gewehr! / Viele Jahre zogen dahin / geknechtet das Volk und betrogen / Verräter und Juden hatten Gewinn / sie forderten Opfer Legionen. / Im Volke geboren, erstand uns ein Führer, / gab Glaube und Hoffnung an Deutschland uns wieder. / Volk ans Gewehr, Volk ans Gewehr! … // Wir Jungen und Alten, Mann für Mann, / umklammern das Hakenkreuzbanner, / ob Bauer, ob Bürger, ob Arbeitsmann, / sie schwingen das Schwert und den Hammer / für Hitler, für Freiheit, für Arbeit und Brot. / Deutschland, erwache, Juda den Tod. / Volk ans Gewehr, Volk ans Gewehr!«
Wie passt das zusammen, das gute Verhältnis zu den jüdischen Nachbarn im Haus und die Diffamierung der jüdischen Bürger in den Liedern, die Inge und Hans Scholl bei der Hitlerjugend, im BDM und in der Schule schmetterten? Begeistert und gedankenlos? Wer diese Fragen stellt, kann sie gleich weiterreichen an die Millionen Deutschen, die »mit aufrichtiger Begeisterung« eine »gewissenlose und brutale Diktatur« unterstützten. Und an einzelne berühmte Zeitgenossen, erfahrene Erwachsene, deren Verhalten im ersten Jahr der NS-Diktatur mindestens so widersprüchlich, gespalten und unverständlich ist wie das von Inge und Hans Scholl, die in diesem Herbst sechzehn beziehungsweise fünfzehn Jahre alt werden.
Nur einen Monat nach der Etablierung der Hitler-Regierung durch die Reichstagswahl im März 1933 gab das neue »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« zum einen die Möglichkeit, kritische Beamte zu entlassen. Zugleich führte es den sogenannten »Arierparagraphen« ein, mit dem »nichtarischen« Beamten jede weitere Beschäftigung im Öffentlichen Dienst verboten wurde; »nichtarisch« war, wer einen jüdischen Eltern- oder Großelternteil hatte. In den folgenden Monaten erhielten allein im Höheren Dienst zweitausend jüdische Beamte und an den Universitäten siebenhundert jüdische Hochschullehrer ihr Entlassungsschreiben.
Aus freien Stücken entschied die Evangelische Kirche in Preußen am 6. September 1933 die Einführung des »Arierparagraphen« für ihre Pfarrer und alle Beamten in der kirchlichen Verwaltung; auch wer als Geistlicher oder Beamter »mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet« war, wurde in den Ruhestand versetzt beziehungsweise gar nicht erst eingestellt. Aus Protest dagegen gründete Pfarrer Martin Niemöller, U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg und NSDAP-Wähler, den Pfarrernotbund. Bis zum Jahresende wurden rund 6000 evangelische Pfarrer – von insgesamt 18 000 reichsweit – Mitglieder und verpflichteten sich, den »Arierparagraphen« in der Kirche nicht anzuerkennen. Doch als wenige Wochen später, Mitte Oktober, Adolf Hitler den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und
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