Sophie Scholl
erkennt man erst, wenn man im Ablauf deutscher Geschichte vergebens nach einem Vorbild für ein geschlossenes Mädelleben sucht.« Neben hauptamtlichen BDM-Funktionärinnen arbeiteten Zehntausende von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen darauf hin, dass möglichst alle deutschen Mädchen Mitglied im BDM wurden. Nicht wenige Mitarbeiterinnen versuchten den inneren Widerspruch dieser NS-Organisation zu überbrücken: dem von Hitler vorgegebenen Frauenideal treu zu bleiben – Mutter zu sein, Hüterin der Familie und des »reinen Blutes« – und zugleich vorgeblich »männliche« Tugenden wie Kameradschaft und Kampfbereitschaft zu üben, »stark und stolz« zu sein, den Verstand zu nutzen und nicht nur das Gefühl. Eben nicht auf »Kinder und Küche« beschränkt zu bleiben, sondern als moderne Frau gleichwertig neben dem Mann zu stehen.
Wenn es um die reichsweite Anerkennung weiblicher Gleichstellung ging, zählten schon kleine Erfolge, wie sie ein BDM-Handbuch von 1934 verkündete: »Wir Mädel wollen uns freuen, dass das Wort Nadelarbeit mehr und mehr aus dem weiblichen Sprachschatz verschwindet. An seine Stelle tritt das Wort Werkarbeit. Die Werkarbeit umfasst alle Gebiete der Handarbeit, die man sich denken kann. … Säge, Hammer und Zange gehören genau so in die Hand des Mädels wie Häkelhaken und Stopfpilz.« Und im März 1934 verteidigt der Reichs-Jugend-Pressedienst den Erlass der Reichsjugendführung, in allen BDM-Gruppen wöchentlich Sport zu treiben: »Viele Mädel waren von der Einführung des Sportabends begeistert. … Daneben aber hieß es besonders bei vielen Eltern: ›Warum sollen die Mädel auch noch Sport treiben, das ist doch nur Jungensache!‹ Nein, ein deutsches Mädel muss Körpererziehung durch Sport treiben, um später eine gesunde Frau und Mutter zu sein.« Soweit die Verbeugung vor dem NS-Ideal. Doch gegen Ende riskiert die Autorin des Berichts Kritik an traditionellen Geschlechterklischees: »Einsatzbereitschaft für andere, Mut, Geistesgegenwart und Entschlossenheit sind durchaus unabhängig von männlicher Kraft und hoher sportlicher Leistung.« Es sind Erziehungsziele, die auch bei Familie Scholl galten, für Töchter und Söhne gleichermaßen.
Hinzu kam, dass Sophie Scholls Jungmädelführerin geradezu perfekt das Bild einer modernen, selbstbewussten jungen Frau verkörperte. Die siebzehnjährige Charlotte Thurau – von allen »Charlo« genannt – war intelligent, sportlich, in Kunst und Literatur ebenso beschlagen wie im Inszenieren verwegener Geländespiele. Bei ihren Heimabenden wurde diskutiert, und die Mädchen wurden zu eigenen Meinungen ermuntert. Sie war eben kein Spießer – eine Vokabel, die in den Broschüren von HJ und BDM für alles stand, was die nationalsozialistische Jugend verabscheute. »Charlo« war den Mädchen, die sie anführte, ein Vorbild, für das sie in der Pubertätszeit besonders empfänglich waren. Inge Scholl und Charlotte Thurau arbeiteten als Führerinnen im BDM zusammen und freundeten sich an. Bald war »Charlo« bei den Scholls ein gern gesehener Gast.
Der Entschluss von Sophie Scholl, wie alle anderen Geschwister in einer nationalsozialistischen Organisation mitzumachen, ist eingebettet in die kein Ende nehmenden öffentlichen Dankadressen und Elogen auf den Führer Adolf Hitler und seine Politik. Zum »Neujahr 1934« stand im Gemeindeblatt der evangelischen Kirche Ulm, »der gottgeschenkte Führer« habe das »Steuerruder des gefährdeten Schiffes noch im letzten Augenblick herumgerissen – Es ist wie ein Wunder vor unseren Augen«. Zur Heldengedenkfeier am 21. Januar auf dem Ulmer Soldatenfriedhof nannte der Dekan des Ulmer Münsters Hitler einen Mann, den Gott erweckt habe, »dass wir ein wahrhaftes Volk würden«. Im protestantischen Ulm schien ein festes Bündnis von Kirche und Nationalsozialismus geschmiedet. Als der 30. Januar nahte, an dem Hitler ein Jahr zuvor zum Reichskanzler ernannt worden war, lud die evangelische Kirche über die Presse zur Teilnahme an den kirchlichen Feiern ein. Die NSDAP-Kreisleitung revanchierte sich mit dem Aufruf »Besuchet die Dankgottesdienste«. Beim Gottesdienst am 30. Januar im Ulmer Münster waren selbst die Stufen des Chores besetzt.
Die meiste Zeit jedoch war Alltag; ein Alltag, der für Sophie Scholl neben der Schule zunehmend mit Jungmädel-Aktivitäten gefüllt war. Die gleichaltrige Susanne Hirzel, mit der sich Sophie Scholl anfreundete, beschreibt in ihren Erinnerungen, was ihre Zeit bei den
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