Sophie Scholl
Innersten. Sophie Scholl, noch nicht in die Veränderungen involviert, konnte beobachten, miterleben, wie die Anschauungen der Eltern und der beiden ältesten Geschwister über Politik und Lebensideale auseinanderdrifteten. Wie die Spannungen zwischen Inge und der Mutter, zwischen Hans und dem Vater dramatisch zunahmen – und wie sich schließlich beide Geschwister durchsetzten mit dem, was sie als richtig ansahen, sich nach außen, zur Welt orientierten, und wie im Kielwasser der Älteren Liesl und Werner den gleichen Weg einschlugen. Wie die Eltern, die bisher ihren Kindern ohne Abstriche Maßstab und Vorbild waren, in entscheidenden Fragen ihre Autorität verloren. Nimmt man ihre beiden Zeugnisse des Jahres 1933 als Indikator, hat dies Sophie Scholls Leben nicht in Unruhe versetzt. Ihre Noten sind gleichmäßig solide; im Frühjahr ist sie auf Platz 5–7 unter 30 Mädchen, im Herbst auf Platz 4 unter 31 Klassenkameradinnen.
Das Jahr 1933 bot einen außergewöhnlichen Anschauungsunterricht für »Mutters Sonnenschein«, nicht selten »Sofielein« genannt, obwohl sie im nächsten Frühjahr dreizehn Jahre alt wird. Ihre vier Geschwister hatten eine Entscheidung getroffen. Nun war Sophie Scholl an der Reihe – so oder so.
DAS HARTE UND DAS WEICHE – FAHNE UND ROSE
Januar 1934 bis September 1935
Es ist ein nüchterner Satz: »Ich selbst trat im Januar 1934, damals 13jährig, in die Jungmädelschaft der HJ ein …« So steht es im Protokoll der Gestapo über das Verhör von Sophie Scholl am 18. Februar 1943. Aus der Zeit selbst gibt es von ihr keine direkten Zeugnisse. Typisch für Sophie Scholl in späteren Jahren ist, was sie als Neunzehnjährige ihrem Freund Fritz Hartnagel schreibt: »Es wirkt lächerlich an einem Mädchen, wenn es sich um Politik bekümmert. Sie soll ihre weiblichen Gefühle bestimmen lassen über ihr Denken. … Ich aber finde, dass zuerst das Denken kommt und dass Gefühle oft irreleiten.« Mit dem Denken untrennbar gekoppelt ist für Sophie Scholl der Wille. Vielleicht darf ihr Entschluss, in den nationalsozialistischen Bund Deutscher Mädel und dort in die Jungmädelgruppierung einzutreten, in diese Richtung gedeutet werden: Sophie Scholl hat es bedacht, und sie hat es gewollt. Was nichts daran ändert, wenn für die im Januar 1934 noch Zwölfjährige die zielgenau von den Nationalsozialisten für die Phase des Jugendalters eingesetzte Attraktion ihrer Jugendorganisationen auch bei Sophie Scholl ihre Wirkung tat. (Übrigens spricht Sophie Scholl von der HJ, weil der BDM nicht eigenständig war, sondern eine Unter-Organisation der Hitlerjugend.)
Wie alle, die in diesem Frühjahr 1934 in Ulm erstmals bei den Jungmädeln mitmachten, hat Sophie Scholl am 20. April – Hitlers Geburtstag, der stets pompös gefeiert wurde – auf der Gänswiese nahe dem Ulmer Stadion ihr Gelöbnis gesprochen, gegen Abend, wenn die leuchtenden Fackeln die feierliche Stimmung noch steigerten: »Jungmädel wollen wir sein. / Klare Augen wollen wir haben / Und tätige Hände. / Stark und stolz wollen wir werden: / Zu gerade, um Streber oder Duckmäuser zu sein, / Zu aufrichtig, um etwas scheinen zu wollen, / Zu gläubig, um zu zagen und zu zweifeln, / Zu ehrlich, um zu schmeicheln, / Zu trotzig, um feige zu sein.« Wer wollte das nicht unterschreiben, zumal in jugendlichen Jahren, wenn die Ideale noch glänzen, die Begeisterung für mutige Einsätze ungetrübt ist, die Welt der Erwachsenen spießbürgerlich und kleinkariert erscheint? Und wenn es endlich, dank Adolf Hitler und seiner Bewegung, für Mädchen eine Alternative gibt, diese Ideale, die Begeisterung und die Freiheit ausleben zu können, sich zu bewähren wie seit Jahrzehnten die Jungen in ihren Bünden und Gruppen.
Nach dem feierlichen Gelöbnis erhielten die neuen Jungmädel das schwarze Halstuch und den braunen geflochtenen Lederknoten, durch den es vor der Brust gezogen wurde; Teil der JM-Uniform, zu der die weiße kurzärmlige Bluse, der Rock, braune Halbschuhe, weiße Söckchen und das HJ-Abzeichen gehörten. Im Winter waren Wollstrümpfe vorgeschrieben und über der Bluse wurden eine wollene Trachtenjacke nebst brauner Weste getragen.
Es stimmt, was der Reichs-Jugend-Pressedienst Nr. 224 am 6. Dezember 1934 über den BDM schreibt: »Der Mädelbund in der heutigen Form ist etwas Einmaliges – einmalig in seinem Anspruch auf Totalität und erstmalig in seiner Breiten-Ausdehnung. … Was eine solche Jugendbewegung für uns Mädel bedeutet,
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