Sophie Scholl
gehemmt.« Noch am 2. August wurde die Reichswehr durch einen neuen Eid zu Treue und Gehorsam verpflichtet, aber nicht wie bisher auf die Verfassung und die Gesetze, sondern bedingungslos und ausschließlich auf die Person Adolf Hitler.
Hitlers Rechnung war aufgegangen: Je brutaler er vorging, desto stärker wurde sein Rückhalt in der Bevölkerung. Demonstrativ setzte er für den 19. August 1934 eine »Volksabstimmung über die Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers« an. 84,9 Prozent stimmten der Vereinigung und damit der unbegrenzten Herrschaft des Führers über Deutschland zu. In Ulm – wie überall im Reich – bot die Abstimmung wieder Gelegenheit zu Aufmärschen und Fackelzügen, Hitlerjugend und BDM marschierten. Ein Foto im »Ulmer Tagblatt« zeigt Jungen und Mädchen bei einem Akkordeon-Auftritt vor einem fast drei Meter hohen Hitler-Porträt, das altarähnlich auf dem Münsterplatz aufgestellt war. Eine deutlich angebrachte Tafel verweist auf das »Schutzhaftlager« Oberer Kuhberg, wo ein ehemaliger Kommunist dieses Bild angefertigt habe, aus »Verehrung« zum Führer.
Wiederum ein Beweis, wie gezielt die braunen Machthaber öffentlich machten, dass Terror und Unrecht Instrumente ihrer Politik waren. Das Fort Oberer Kuhberg war Teil der umfassenden Festungsanlagen, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts um die Garnisonsstadt Ulm gebaut wurden und seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ihre militärischen Funktionen verloren hatten. Der Obere Kuhberg wurde im November 1933 von Insassen des Ulmer Gefängnisses zu einem Konzentrationslager ausgebaut. Zu den ersten Häftlingen, die im Dezember eingeliefert wurden, gehörte der führende Sozialdemokrat, Reichstagsabgeordnete und entschiedene NS-Gegner Kurt Schumacher, dem als Soldat im Ersten Weltkrieg der rechte Arm amputiert worden war. Als das KZ Oberer Kuhberg 1935 aufgelöst wurde, verlegte man Schumacher, der im Juli 1933 verhaftet worden war, ins KZ Dachau.
Zu den Erinnerungen der Ulmer Bürger gehört, dass einzelne Häftlinge und Gruppen, zum Teil angekettet, durch die Straßen geführt wurden. Jeden Donnerstag fuhr ein »Kuhberg-Lastwagen« mit Menschen durch Ulm; wahrscheinlich war dann »Badetag« im Garnisonsgefängnis. Dass der Obere Kuhberg ein Ort war, an dem Menschen, die das Regime als Gegner einstufte, ihrer Rechte und Freiheiten beraubt wurden, kann weiten Kreisen der Ulmer Bevölkerung, zumal denen, die politisch interessiert waren, nicht verborgen geblieben sein. Die protestantischen Geistlichen betreuten das KZ, als wäre es ein ordentliches Gefängnis; von Protesten oder moralischen Bedenken gegen diesen Unrechts-Ort ist nichts bekannt.
Bei der Sonnwendfeier im Juni 1934 war auch Sophie Scholl, im Mai dreizehn Jahre alt geworden, dabei. Sie zog im feierlichen Marsch bei drückender Hitze mit den Jungmädeln hinauf zum Michelsberg und schmetterte mit allen das beliebte »Flamme empor!«, während die Flammen am Holzstoß züngelten: »Heilige Glut, / rufe die Jugend zusammen, / dass bei den lodernden Flammen / wachse der Mut … Auf allen Höhn / leuchte du flammendes Zeichen / Dass alle Feinde erbleichen, / Wenn sie dich sehn! / Leuchtender Schein! / Siehe wir singenden Paare / Schwören am Flammenaltare / Deutsche zu sein.« Was Inge zur Sonnwendfeier 1933 noch auswendig lernen musste, war Sophie Scholl vom vielen Hören und Mitsingen längst geläufig.
Keine Woche verging in der Wohnung Olgastraße, ohne dass sich Hans und Werner Scholl mit ihren HJ-Kumpeln in ihrer separaten Bude im 4. Stock unterm Dach trafen. In der Wohnung im 1. Stock kamen Inge, Sophie und Liesl mit ihren BDM-Freundinnen im Mädchenzimmer zusammen. Gemeinsames Singen gehörte immer dazu, die Scholl-Kinder begleiteten auf der Gitarre, und die Mutter stellte Tee und selbstgemachten Hefezopf bereit. Ab und an steckte Robert Scholl, dessen Büro im Haus lag, seinen Kopf kurz durch die Tür. Selbstverständlich kannten und sangen die Mädchen auch die HJ- und Fahrten-Lieder der Jungen; Inge Scholl hat über die Jahre rund neunzig aufgeschrieben, darunter, was sie »Hitler- und Freiheitslieder« nennt. Wenn die Jungmädel durch Ulm marschierten, sangen sie aus voller Kehle das offizielle HJ-Lied mit dem Refrain: »Uns’re Fahne flattert uns voran. / In die Zukunft ziehn wir Mann für Mann. / Wir marschieren für Hitler / Durch Nacht und durch Not / Mit der Fahne der Jugend / Für Freiheit und Brot. / Uns’re Fahne flattert uns voran, /
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