Sophie Scholl
Uns’re Fahne ist die neue Zeit. / Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit! / Ja die Fahne ist mehr als der Tod!« Was sollte schlecht sein an solchem beschwörenden Pathos? Die Fahne hatten schon ganz andere vor den Nationalsozialisten beschworen, zum Beispiel der Dichter Rainer Maria Rilke, als Symbol von Rausch und Tod und Treue. Die Scholl-Kinder verehrten Rilke. Wir werden bald von dieser Begeisterung hören.
In den Schulferien machte Hans Scholl, inzwischen Jungzugführer beim Jungvolk, die erste Fahrt mit seinen Jungen. Die Zelte wurden im Böhmerwald aufgeschlagen, und Bruder Werner, obwohl erst zwölf, durfte mit dabei sein. Die anderthalb Jahre ältere Sophie, so entschieden die Eltern, war noch zu jung, um Inge Scholl und ihre Jungmädel ins Zeltlager zu begleiten. Auch Liesl Scholl übernahm 1934 eine Gruppe und wurde Jungmädelscharführerin. Im Herbstzeugnis war Sophie Scholl im Vergleich zu vorangegangenen Plazierungen ein wenig abgerutscht, auf Platz 7 bis 10 unter 31 Schülerinnen. Vielleicht der erste Hinweis, dass die Aktivitäten bei den Jungmädeln ein wenig Tribut forderten.
Gleich zum Jahresanfang, am 14. Januar 1935, wird Sophie Scholl mit den Jungmädeln ins Ulmer Münster eingezogen sein, wo zum Dankgottesdienst auch »die Jugend in Uniform« erwartet wurde. Am Tag zuvor hatten sich in einer Volksabstimmung neunzig Prozent der Saarländer, deren Gebiet seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg offiziell vom Völkerbund, de facto von den Franzosen verwaltet wurde, dafür ausgesprochen, »heim ins Reich« zu kehren, ein Teil von Hitler-Deutschland zu werden. Der Jubel war unbeschreiblich, wiederum bei allen. Theodor Kappus, Dekan am Ulmer Münster, erklärte in seiner Predigt, »dass auch Adolf Hitler in seiner Demut, die immer so groß an ihm ist, Gott die Ehre gibt. Gott aber muss unser Volk lieben, sonst hätte er ihm nicht diesen Führer gegeben«. Am 1. März 1935 – mitten in der Faschingszeit – wurden alle diesbezüglichen Vergnügungen untersagt, damit der »einzig in der Geschichte dastehende Befreiungstag in festlicher und würdiger Form« gefeiert werden konnte. Das Saarland wurde mit diesem Tag wieder an das Deutsche Reich zurückgegeben. Um 10 Uhr 15 läuteten die Glocken vom Münster und allen anderen Kirchen.
Für alle Scholl-Kinder war der 1. März ein langer Tag: »BDM und HJ hatten schon in den Morgenstunden Uniform angelegt und verkauften die Edelweißblumen des Winterhilfswerks.« Ob die jährlichen Straßensammlungen für das Winterhilfswerk oder der Eintopf-Sonntag: Die Nationalsozialisten besaßen ein Gespür für Aktionen, die dem Einzelnen das Gefühl gaben, konkret mitzuhelfen am großen Ganzen, Gutes zu tun für notleidende Volksgenossen; ob als Spender und Spenderin oder als HJ- und BDM-Mitglied, das von Oktober bis Frühjahr viele Stunden mit der Sammelbüchse auf den Beinen war. Bei der ersten Winterhilfswerksammlung 1933/34 spendeten die Deutschen 358,1 Millionen Reichsmark, gedacht als Entlastung der staatlichen Fürsorge. Doch über die Verwendung der mit jedem Jahr steigenden Millionen musste der NS-Staat keine Rechenschaft ablegen.
Im Frühjahr 1935 nahm Sophie Scholl die erste Stufe der Karriereleiter bei den Jungmädeln: Sie wurde Scharführerin und leitete eine eigene Gruppe von rund fünfzehn Mädchen in Ulm-Wiblingen, südlich der Donau. Alle Scholl-Kinder besaßen ein Fahrrad; dass Sophie, die im Mai vierzehn Jahr alt wurde, nun viele Male wöchentlich bei jedem Wetter mit dem Rad die Strecke zurücklegte, war keine Frage. Vom 7. Mai 1935 hat sich eine Quittung über fünf Reichsmark auf Sophie Scholls Sparkonto bei der Ulmer Gewerbebank erhalten. Wer mit dreizehn – oder schon früher – ein Sparkonto besitzt, ist zur Selbständigkeit erzogen.
Während Sophie Scholl sich erstmals außerhalb der Stadt als Führerin erprobte, standen Inge und Hans Scholl im Rampenlicht, wenn es um die nationalsozialistischen Jugendorganisationen in Ulm ging. Inge war nun Leiterin von Ring II, die höchste ehrenamtliche Funktion im BDM, und damit auch für die Schulungskurse der Führerinnen zuständig. Hans war mit dem 1. Januar 1935 zum Fähnleinführer im Jungvolk ernannt worden, ihm unterstanden 120 Jungen. Konnte es für die jüngere Sophie Scholl bessere Vorbilder geben als ihre Geschwister? Zur Feier der Saar-Rückkehr im März auf dem Münsterplatz wurde für den Aufmarsch des Jungvolks die Parole ausgegeben, mit kurzer Hose zu erscheinen. Einer, der damals
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