Sophie Scholl
Jungvolks in der Hitlerjugend erleben durch Hans Scholl bei Kerzenschein den achtzehnjährigen Cornet Christoph Rilke, der als Fahnenträger einer Soldateska im 17. Jahrhundert von einer Schlacht zur anderen durch Österreich-Ungarn reitet. Im Mondlicht schreibt er seiner Mutter einen Brief: »Meine gute Mutter, seid stolz: Ich trage die Fahne, seid ohne Sorge: Ich trage die Fahne, habt mich lieb: Ich trage die Fahne.« Und dann der feindliche Überfall in der Morgendämmerung, als die Soldaten eine Nacht im Schloss sich ausruhten, in weichen Betten, mit schönen Frauen. Das Schloss brennt, die Männer versuchen auszubrechen – »Aber die Fahne ist nicht dabei«. Doch da stürmt schon der Cornet herbei, stürzt sich mit seinem Pferd tief hinein in die feindlichen Reihen – weist seinen Männern den Weg mit der Fahne, »und niemals war sie so königlich, … wirft sich hinaus und wird groß und rot … Da brennt ihre Fahne mitten im Feind, und sie jagen ihr nach«. Die Fahne verbrennt, der Cornet Rilke wird von sechzehn feindlichen Säbeln durchbohrt. Doch für ihn ist es wie ein Fest; er hat der Fahne die Treue bewahrt.
Wer von den Jungen, während sie Hans Scholl an diesem langen Heimabend lauschten, dachte nicht an das Lied der Hitlerjugend, das sie so oft sangen: »Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit. Ja die Fahne ist mehr als der Tod«. Aber nahmen sie auch mit auf den Heimweg, was der Cornet Rilke schmerzlich vermisste? Eine Erfahrung, die ebenfalls im Zentrum der Erzählung steht, die Hans Scholl, ihr Führer, für sie ausgesucht hatte?
Denn auf dem Ritt über die Schlachtfelder, über erschlagene Bauern und vorbei an fremden Hütten, hat der Fahnenträger eine Vision: »RAST! Gast sein einmal. … Nicht immer feindlich nach allem fassen, einmal sich alles geschehen lassen und wissen – was geschieht ist gut. … Nicht immer Soldat sein. Einmal die Locken offen tragen und den weiten offenen Kragen und in seidenen Sesseln sitzen.« Neben allem Drill und Gleichschritt lässt Hans Scholl in der poetischen Sprache des Dichters eine Alternative jenseits des Soldaten-Ideals aufleuchten: Weichheit statt Härte, Frauenhände statt Männerstolz, Träume statt Taten, Brokat und Seide statt Waffenrock, keine Trommeln, nur sanfte Rosen, jene Blume, die für Rilke Sehnsucht und Erlösung verkörpert. Das alles erlebt der achtzehnjährige Cornet in der einen Nacht im Schloss, bevor er sich mit der Fahne in Schlacht und Tod stürzt.
Warum so ausführlich? Weil dieser Vorlese-Abend keiner Laune entspringt; er sagt Zentrales über Hans Scholl – und über Sophie Scholl, seine Schwester. Denn auch das steht in den Erinnerungen, die Susanne Hirzel über die gemeinsame Zeit im Jungmädelbund aufgeschrieben hat: »Fast jedes Wochenende fand sich privatim eine kleine Schar, die sich stolz als ›Elite‹ fühlte, zusammen, um an der Iller oder am Donauufer zu zelten. Da sehe ich Sofie, am Feuer sitzen und im jagenden Rhythmus, atemlos, in begeisterter Hingabe Rilkes ›Cornet‹ vorlesen.« Die Lesungen am Feuer und bei Heimabenden haben nichts Heimliches an sich, sind keine Gegensätze zu körperlichen Mutproben, sondern für Sophie und Hans Scholl Teil des Abenteuers Leben, in dem sich Widersprüche zum Ganzen fügen. Jungvolk und Jungmädel-Gruppe bieten die Möglichkeit, dieses Abenteuer zu gestalten, zu erleben, auszukosten und die Widersprüche auszuhalten.
Der Spießer liebt es harmonisch, freut sich am Mittelmaß ohne Ecken und Kanten. Aber Adolf Hitlers »neues Deutschland« hat der Jugend ein größeres Ziel gesetzt. Hans Scholl hat sich ein hektografiertes Blatt aufgehoben, das den jugendlichen Führern einhämmert: »Wenn wir vor unseren Jungenblock treten, dann ist uns das nicht Dienst allein … dann sehen wir nicht nur Uniformen … wir sehen Hunderte von kleinen Funken, die sich zum großen Feuer sehnen … Da haben wir uns heißen Herzens und klaren Sinns unserer heiligen Aufgabe verschrieben: Zu schlagen, zu feilen, zu schleifen, bis jeder einzelne unserer Armee Kunstwerk ist und Künstler zugleich. Wie Kristall. Hart, klar und kantig.« Kunstwerk und Künstler zu sein, ein großartiger Widerspruch und jeder Mühe wert, daran mitzuarbeiten.
Den Jungmädeln im Bund Deutscher Mädel erläuterte ein Handbuch 1934, was das Wesentliche der »Volksgemeinschaft« ist: »… dass zum Leben in dieser Gemeinschaft das Sicheinfühlen in die Art des andern Volksgenossen und die Achtung vor seinem Wesen
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