Sophie Scholl
Kindern. Nicht sich gehen lassen, sondern handeln; nicht schwach, sondern stark sein im Dienst einer großen Sache.
Wenngleich die Geschichte ohne Zeitangabe überliefert wird, so scheint sie doch glaubwürdig und muss in die Jahre 1936/37 fallen. Helene erschien an einem Samstag nicht zum JM-Treffen von Sophie Scholls Gruppe. Ihre Eltern hatten eine Metzgerei, und sie musste beim Verkauf aushelfen. Sophie Scholl schickte eines der Mädchen, um die Säumige zum »Dienst« – so die offizielle Bezeichnung – zu bringen. Als Helene das zweite Mal nicht erschien, zog Sophie Scholl andere Saiten auf. Wie die Vorschriften es erlaubten, schickte sie nun einen Polizisten in den Laden von Helenes Eltern. Der forderte sie vor allen Kunden auf, ihre Tochter sofort für den JM-Nachmittag freizugeben. Dahinter stand die Überzeugung, dass Helene in der Gemeinschaft mit den Jungmädeln mehr für sich und die anderen tat, als beim Wurstverkauf hinter der Theke. Wahrscheinlich aber auch das gute Gefühl, es den Spießern im Metzgerladen einmal zu zeigen. Wo hatte es das bisher in der Gesellschaft gegeben, dass Jugendliche Macht ausüben konnten, sogar gegenüber den Erwachsenen?
In den BDM-Schriften und -Jahrbüchern spiegelt sich der interne Konflikt um die Ausrichtung der Mädchenarbeit im Dritten Reich. Das moderne Bild einer selbstbewussten Frau passte nicht ins Schema der nationalsozialistischen Ideologie, die für die Mädchen nur eine Rolle als Ehefrau und Mutter vorgesehen hatte. Im Jahrbuch des BDM 1935 werden die internen Differenzen offen angesprochen. Die nationalsozialistische Jugendbewegung verkörpere eine neue Mädelgeneration, »die mit alten Einstellungen gebrochen hat«. Dagegen würden »zeitfremde Menschen« protestieren: »Der BDM ist unweiblich, marschiert, ist uniformiert, wozu wollen Mädel politisch sein?« Besonders das Marschieren scheint umstritten zu sein und wird vehement verteidigt: »Marschieren ist ein Ausdruck der Gemeinsamkeit, der einzelne ordnet sich ein und läuft nicht daher, wie es ihm passt. … eine Mädelschar, die mit ihren Liedern in straffer Form über die Straße zieht, braucht noch lange nicht eine Verzerrung männlichen Vorbildes zu sein und wird von uns als würdiger empfunden als der Gänsemarsch hinter der Lehrerin.« Das saß, und Sophie Scholl, die auf einen zackigen Gleichschritt Wert legte, konnte sich bestätigt fühlen.
Die Aktivitäten im BDM waren für Sophie Scholl kein Opfergang, sondern verschafften Befriedigung. Das vergleichsweise wenige, das wir aus ihren vier Jahren aktiver BDM-Arbeit aus direkten Quellen wissen, deutet auf eine Mischung hin: die persönlichen Vorlieben einzubringen, Rilkes mitreißende Geschichte vom »Cornet«, die in keinem NS-Lehrbuch stand, am Lagerfeuer vorzulesen; vorgegebene nationalsozialistische Themen jedoch nicht auszulassen, zumal Sophie Scholl auch da ihre Fähigkeiten ausleben konnte. Noch einmal Eva Amann: »Sophie hat immer gerne Balladen gesungen, ganz heldische Balladen. Es handelte sich um Siegfried, der das Gold von der Heide trug. Wie hat das geheißen? ›Grani trug Gold aus der Heide, hei wie fuhr das Schwert aus der Scheide. Sigurd traf den Drachen gut.‹ Ich sehe das heute noch vor mir, so hat mir das imponiert und mich beeindruckt. Sophie hat dazu auf ihrer Klampfe, ihrer Gitarre gesungen, und dazu das Lagerfeuer. Also das hat uns sehr gefallen.« Damit gewann Sophie Scholl ihre jungen Mädchen, auch diesmal zum Unwillen der Eltern. Denn die beschwerten sich nach der Fahrt an den Bodensee, ihre Kinder hätten zu nächtlicher Stunde in ihren Zelten schlafen sollen, statt ums Lagerfeuer zu sitzen und Balladen zu lauschen.
Die Ballade von Sigurd und seinem Pferd Grani, dem Gold und dem Drachen stammt aus der Edda. Für die Nationalsozialisten war diese Überlieferung nordischer Sagen ein Stück germanischer Helden-Literatur, das den germanischen Herrenmenschen – das Ziel nationalsozialistischer Rassepolitik – als Vorbild dienen sollte. Die Edda war im Schulunterricht vorgeschrieben, stand in den Schulungsmappen von HJ und BDM. Für den Gruppenabend der BDM-Führerinnen am 18. September 1935 hat Inge Scholl notiert: »Thema: das Sigurlied der Edda.« Es ist eben diese Ballade vom germanischen Helden Sigur-Siegfried, die Sophie Scholl am Lagerfeuer ihren Jungmädeln sang. Rilke und Edda: Für Sophie Scholl ging beides zusammen. War es nicht eine willkommene Herausforderung, Gegensätze aufzuzeigen und auszuhalten?
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