Sophie Scholl
Das Lebensgefühl Jugendlicher ist durchzogen von Widersprüchen, damit umzugehen ihr täglich Brot. Nichts deutet darauf hin, dass die Spannbreite der JM-Arbeit, wie Sophie Scholl sie verstand, den Rahmen sprengte, den das nationalsozialistische System vorgab.
Für die nächtlichen Lagerfeuer, an denen ihre Führerin die Ballade von Sigur zur Gitarre sang, hatten die Mädchen tagsüber Holz gesammelt. Die Reise mit Rädern und Zelten durch das Allgäu zum Bodensee hatte Sophie Scholl in den Sommerferien 1936 organisiert und geleitet, eine Menge Verantwortung für eine Fünfzehnjährige. Zuvor war sie mit anderen Ulmer BDM-Führerinnen im Sommerlager auf Langeoog gewesen, das Inge Scholl leitete. Bei einem Ritual am Strand durfte Sophie die Fahne ins Meer tragen. In dem bereits zitierten Schulaufsatz über »Kleine und große Feste im Jahreslauf« hat sie sich 1939 an den »weißen, blendenden Sandhügel von Langeoog« erinnert, an das »leuchtende blau-grüne Meer mit dem unaufhörlichen leichten Wellenschlag … vielleicht denkst du dann mit welcher Lust wir in diese Wellen hinausschwammen?«
Zurück von der »Großfahrt« Langeoog, erlebte Inge Scholl zu Hause einen Schock, und ihre Geschwister werden mit ihr gelitten haben. Hier drängt sich die Frage auf, wie Inge Scholl den immer größer werdenden Zeitaufwand für ihre BDM-Arbeit mit ihrem Alltag verbinden konnte. Denn sie war nicht nur bei allen Aktionen zur Stelle. Sie machte meist die Vorbereitungen, sie organisierte, wenn es unter anderem im April und Mai 1936 heißt: »Gemeinsam in den Film ›Wolga, Wolga‹; Probe bei der NS-Frauenschaft; Nehmen an Errichtung des Maibaums teil.« Am 1. Mai: Um ½ 7 Antreten zum Propagandamarsch. Anschließend Kundgebung auf dem Münsterplatz; am 2. Mai marschierte sie mit den Jungmädeln nach Herrlingen; am 3. Mai ist Sportschulung für Gruppen- und Ringführerinnen; am 6. Mai: »Endlich das erste mal Frühsport. 6 Uhr, fabelhaftes Maiwetter«; am 7. Mai Führerinnenschulung. In diesem Tempo ging es weiter.
Inge Scholl hat nie chronologische Angaben zu ihren Jugendjahren und ihren Ämtern im BDM gemacht. Für sie war die Zeit beim BDM »eine blöde, eine dumme, eine kurze, eigentlich unerhebliche Zwischenstufe in meinem Leben«. Trotz dieser Aussage zu Lebzeiten, hat sie jedoch Dokumente in ihrem Nachlass aufbewahrt, die eine andere Geschichte erzählen. Zum Beispiel das Zeugnis, das die sechzehnjährige Inge Scholl am 28. März 1934 von der Ulmer Oberrealschule für Mädchen erhält. Es ist das »Zeugnis der Mittleren Reife«, mit der sie die »Obersekunda-Reife« erlangt – Französisch »sehr gut«, Englisch »gut« und weitere gute Noten. Der Weg zum Abitur steht offen. Nach den mündlichen Aussagen von Inge Scholl und ihrer Schwester Liesl war es Inge Scholls Wunsch, die Schule zu verlassen und anschließend – ab Sommer 1934 – im Steuerbüro ihres Vaters zu arbeiten. Aber hätte sie bei einem vollen Arbeitstag im Steuerbüro wirklich Zeit gehabt für alle ihre BDM-Termine und ihren hohen Posten als Ringführerin? Und wie hätte ihr Vater, ständig um freie Zeit für den Dienst am NS-Staat gebeten, reagiert? Permanente Reibereien und Spannungen wären nicht ausgeblieben.
Tatsächlich trat Inge Scholl nach dem Schulabschluss keine Lehre bei ihrem Vater an, sondern besuchte erst einmal die private kaufmännische Schule Pschierer. Da war sie auf neutralem Terrain, wenn sie um Befreiung vom Unterricht bat, weil sie Zeit für ihre BDM-Tätigkeit brauchte. Mehr noch: Jedes Mal, wenn in Ulm ein hoher NSDAP-Funktionär im Saalbau sprach, wenn Kundgebungen waren oder Sonnwendfeiern, rief die Partei im »Ulmer Tagblatt« Arbeitgeber wie Lehrherren dazu auf, Erwachsene und Jugendliche früher als üblich zu entlassen. Eine private Schule wird sich da keinen Ärger eingehandelt haben. Wenn nicht 1934, wann begann Inge Scholl die Lehre bei ihrem Vater? Ein Dokument aus ihrem Nachlass schließt die Lücke und bringt ein kleines persönliches Drama an den Tag.
Am 9. Mai 1936 hatte Inge Scholl innerhalb des Ulmer BDM die Führung von Ring VII übernommen. Nach diesem Termin werden die Notizen über BDM- und JM-Termine in ihren Unterlagen in einer anderen Handschrift fortgeführt. Vielleicht wurde es Inge Scholl zu viel und ihre Schwester Liesl hat diese Aufgabe übernommen. Entscheidend ist, dass es sich zweifellos um authentische Aufzeichnungen handelt. Die Wochen sind angefüllt mit Aktivitäten; meist Termine, bei
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