Sophie Scholl
Amtsführung nicht die Rede. Aber was zählt, ist die Verbundenheit über nunmehr vier Jahre mit allem, was zum Engagement beim BDM gehört – auch die schönen Erinnerungen an Hitlers Geburtstag. Nebenbei ist dieser Brief ein weiterer Beweis dafür, dass Inge Scholl im Frühjahr 1937 nicht mehr Ringführerin ist, ohne dass es einen politischen Grund oder Kritik an ihrer Arbeit gegeben hätte. Sie ist mit sich im Reinen, weil sie freiwillig, aus persönlichen Gründen, die Entscheidung getroffen hat, von diesem einflussreichen Amt zurückzutreten.
Im gleichen Brief berichtet Inge Scholl ihrem Bruder, dass ihr Vater am 30. April 1937 noch eine mündliche Prüfung machen wird und dann ganz offiziell seine Tochter als Lehrling im Büro anstellen kann. Damit sind wir wieder beim 24. September 1936 auf dem Charlottenplatz in Ulm, als Inge Scholl zurücktritt – »ich muss zu meinem Vater ins Büro«. Begeistert klingt das nicht, eher nach einer unliebsamen Überraschung; als hätte sich Inge Scholl andere berufliche Alternativen für ihr Leben vorstellen können. Fügt man die neuen Fakten zu einem Bild, dann spricht alles dafür, dass der Beginn der Lehrlingstätigkeit von Inge Scholl um zwei Jahre nach hinten verschoben werden muss und erst im September 1936 liegt.
Man muss gar keine Spekulationen anstellen: Die anders verlaufenen, quasi wiedergefundenen Jahre der jugendlichen Inge Scholl hatten eine Auswirkung auf Sophie Scholls Leben. Weil Inge die Karriereleiter im BDM hinaufstieg und bis in den September 1936 Ringleiterin war, hatte sie Gelegenheit, ihre jüngste Schwester gründlich in ihre BDM-Aktivitäten einzubeziehen, Sophie mit an die Front zu nehmen – der verkorkste JM-Abend in Einsingen! –, auf höhere Ämter vorzubereiten und darin Vorbild zu sein. Das schneidige Auftreten von Hans und Inge und Sophie Scholl in den NS-Jugendorganisationen blieb in Ulm keineswegs verborgen; die einen bewunderten ihre Fähigkeiten und Durchsetzungskraft, andere fürchteten sich vor ihren rigorosen Ansprüchen. Sophie Scholl, auch das ein Mythos, war kein schüchternes Mädchen im Hintergrund, sondern gehörte mit zum Scholl-Verbund und fiel auf, wenn sie – mit radikal kurzem Haarschnitt und HJ-Uniform – mit ihren Mädchen durch die Straßen marschierte.
Mitte Oktober 1936 gab es Herbstferien und ein Zeugnis für Sophie Scholl. Auf dem Versetzungs-Zeugnis im Frühjahr 1936 hatte als Resümee gestanden: »Hätte aufmerksamer, regsamer und fleißiger sein können.« Obwohl ihre Zeit aufgrund der Jungmädel-Arbeit immer knapper wurde, hatte Sophie Scholl den Sommer über offenbar ein bisschen mehr für die Schule getan. »Im Ganzen befriedigend«, hieß das Urteil im Herbst und schob zugleich eine grundsätzliche Kritik nach: »Könnte entsprechend ihrer Begabung sehr gutes leisten – leider manchmal etwas gleichgültig und unpünktlich.« Nichts Neues für Sophie Scholl. Das wusste sie selber und war ihr keine Erwähnung wert, als sie am 16. Oktober auf einen Brief von Lisa Remppis antwortete.
Lisa Remppis, ihre beste Freundin, so weit sie zurückdenken konnte, hatte Sophie Scholl vorgeschlagen, den Herbsturlaub bei ihr in Langenburg an der Jagst zu verbringen, weil sie nicht nach Ulm kommen könne. Es hatte all die Jahre keine Ferien gegeben, wo sich die beiden Freundinnen nicht in Langenburg oder Ulm besucht hätten. Sophie Scholl schrieb zurück: »Liebe Lisa! Ich habe Deinen Brief bekommen. Wir haben nur 5 Tage Ferien, und ich muss mit den J. M. auch was machen. Ich kann also nicht kommen. Das verstehst Du doch? Aber ich verstehe nicht, warum Du nicht zu uns kannst. Meine Mutter ist direkt beleidigt. In Ulm ists sicher nicht viel kälter wie in Langenburg. Wenn Du beleidigt bist, kannst Du mich in Gedanken verhauen, so viel du willst. Ich wäre zu faul dazu. Wenn Du vielleicht doch kommen wolltest, 2 Betten sind immer frei, falls Du Abwechslung liebtest. Vielleicht gibst du mir bald Antwort. Viele Grüße Deine energische Sofer.«
Dies ist ein besonderer Augenblick, ein Einschnitt im Rückblick auf ihre Biografie: Nach gut fünfzehn Lebensjahren, in denen ausschließlich indirekte Informationen, äußere Umstände und Familiengeschichten Sophie Scholl Profil gegeben haben, nebst einigen wenigen Vorgriffen auf spätere Briefe, kann sie erstmals direkt zitiert werden. Es ist, als ob eine Persönlichkeit, die fünfzehn Jahre abwesend war und nur in Gesprächen Konturen gewann, das Zimmer betritt. Was die
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