Sophies Kurs
werden aus den Gleisen springen. Dort unten passiert das jeden Tag.« Er rutschte in seinem Sessel hin und her, als hätten sich die Kissen gegen seine Bequemlichkeit verschworen, und zog die Decken enger um seinen Körper. Ein Brikett im Herd fiel knackend in sich zusammen und brachte Papa auf ein anderes Thema. »Eisenbahnen bringen nichts als Ruß und Schmutz«, lamentierte er. »Die Asche dringt, während man schläft, in die Lunge ein, und man wacht davon auf, daß man Ruß hustet.«
»Nicht mit Leichtigkeit atmen zu können, ist sehr schmerzlich«, meinte Kappi in seiner geschraubten Redeweise und dachte dabei zweifellos an seine eigene, weit entfernte Welt.
Ich wünschte, ich könnte Ihnen seine Stimme beschreiben – Sie müssen sich einfach vorstellen, daß er gurrt, leise und hoch wie eine Taube. In meinen Ohren klang das immer sehr sympathisch.
»Ach, dir macht das doch nichts, denn du ragst doch nicht so hoch in die Luft wie ich«, antwortete Papa ungnädig – und wenig logisch. »Du bist doch immer dichter am Boden.«
Kappi war nicht beleidigt, sondern verfärbte sich braun vor Ernst und Würde. »Für uns Kleinwüchsige es ist Glück, Miss Sophie, daß wir nicht müssen leiden wie Mr. Farthing«, sagte er nur.
Papa ignorierte mich immer, wenn er mit Kappi redete, und ignorierte Kappi, wenn er mit mir sprach, das war seine Art. So waren die Dinge nun mal. Aber Kappi hat mich nie ignoriert.
»Hast du jemals eine Eisenbahn-Lokomotive gesehen, Kappi?«
»In London, Miss Sophie, um die Wahrheit zu sagen«, gurrte er. »In Hampstead Harbour sie kommen an und gehen wieder in alle Richtungen.«
»Sind sie auch in die Luft geflogen?«
»Red nicht solchen Schwachsinn«, knurrte Papa, obwohl ich ausgerechnet von ihm gelernt hatte, daß Eisenbahn-Lokomotiven dauernd explodierten und jeden in meilenweitem Umkreis töteten.
Kappi schürzte die Lippen seiner Schnauze, wie er es immer tat, wenn er über etwas nachdachte. Solche Situationen bereiteten ihm stets große Schwierigkeiten. Er war zu höflich, um Papa zu widersprechen, selbst nachher, wenn wir allein miteinander redeten und Papa die Sache schon längst vergessen hatte. »Eine Tugend es ist, klein zu sein, wenn eine Gefahr fliegen kann«, zog er seinen Schluß aus diesem Gespräch.
»Hier, Papa«, sagte ich und gab ihm seine Stiefel, denn ich hatte es satt, sie noch länger zu polieren. Ich holte mein ABC und setzte mich neben Kappi auf den Teppich. Kappi brachte mir Lesen und Schreiben bei –und das keineswegs zu früh, denn ich war damals schon zehn Jahre alt. Kappi war es auch, der mir beibrachte, meinen richtigen Namen zu buchstabieren. Denn eigentlich heiße ich Sophrona und nicht Sophia, wie alle Leute immer denken. Aber zu jenem Zeitpunkt konnte ich das noch nicht, denn wir hatten gerade mit dem Alphabet angefangen und waren auf dieser Reise erst bis zum C gekommen.
»The Cat sat an the Mat«, las ich. Daneben war eine Abbildung, die sehr unserem Percy ähnelte, der sich im Schlaf neben dem Herd zusammengerollt hatte – so weit wie möglich von meinem Vater entfernt.
»Sehr gut, Miss Sophie«, meinte Kappi.
Ich wollte gerade umblättern, um zu erfahren, was die Katze als nächstes tat – vielleicht erwachte sie und machte sich einen Tee –, aber da war keine Katze, sondern ein Hund, der an einem Knochen nagte – ›Dog‹ las ich –, und ihm gegenüber auf der anderen Seite eine Kaiserin, eine ›Empress‹, in ihrem Hermelin (›Ermines‹). Sie balancierte auf einer Erdkugel wie ein Zirkus-Seehund auf einem Ball. »Wo ist die Katze?« fragte ich.
Kappi betrachtete mich ernst mit einem Auge. Er hatte sich zu einem sandigen Gelb verfärbt. »Lesen heißt entdecken, Miss Sophie«, kollerte er hoffnungsvoll – und so arbeiteten wir uns voran. Wir kamen bis zum I wie Ink, wo ich dann unruhig wurde und mich darüber beschwerte, daß es immer noch nichts Neues über die Katze gab. Mein Lehrer meinte, daß wir sicher weiter hinten etwas über sie erfahren würden – beim M wie ›Mouse‹ vielleicht. Aber als wir dann diesen enormen Sprung geschafft und alle Möglichkeiten abgeklappert hatten, nur um festzustellen, daß unter M ein Marsianer stand, steif und stolz unter seiner großen Sonnenhaube, war ich wütend. »Unter M gibt's keine Maus«, schimpfte ich.
»Aber wohl«, sagte Kappie. »Nur auf Bleistift bitte achten.« Und er nahm ihn in seine Pfote und malte mit unendlicher Mühe sehr gewissenhaft und sauber das Wort MOUSE auf
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