Sophies Kurs
mehr erkennen. »Nur Mut, Miss Clare.«
»Miss Farthing«, verbesserte Kappi ihn verwirrt.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht mehr, Kappi. Ich habe nie so geheißen«, sagte ich, obwohl Kappis malvenfarbene Verfärbung bei meiner Erwiderung mir zu Herzen ging und mich beinahe erneut in Tränen ausbrechen ließ.
Ich fühlte mich schwach und elend. Trotzdem trat ich zur Tür und drehte den Knauf, der genau die Form meiner Hand zu kennen schien. »Papa«, rief ich. »Papa, bist du da?« Und damit setzte ich den Fuß in die Schatten des dunklen Hauses.
Ich spürte eher als daß ich es sah, wie Bruno bei dem Gestank zurückwich. Es roch nach Vernachlässigung, altem Tabak und nach Krankheit. Natürlich hast du, Kappi, getan, was du konntest, um ihm dabei zu helfen, das Haus sauber zu halten. Aber dieses Haus war schon in seinem tiefsten Kern unfreundlich und kalt. Hoffnungslosigkeit hauste in der Maserung der nackten Dielen und der billigen Möbel. Die Vorhänge waren geschlossen, und nirgends brannte ein Licht. Dann ertönte Papas Stimme aus der Küche, schwach, aber so herrisch wie immer. »Bist du das, Kappi? Warum räumst du immer das Laudanum weg? Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst es hierlassen ...«
Mr. Jacob Farthing saß abgemagert und eingesunken in seinem alten Sessel dicht beim Herd. Er war völlig in Decken eingehüllt. Auf dem Tisch neben ihm stand eine flackernde Kerze in einem Kerzenhalter. Ab und zu sprang die Flamme höher und warf einen kurzen Lichtschimmer – wie das Wetterleuchten vor einem Sturm – auf seine alten Wangen. Sein Haar war weiß geworden, weiß wie der Schnee auf Lambeth Palace. Die Augen lagen tief in den dunklen Höhlen. Als ich seine Hand nahm, merkte ich, daß sie ganz schwach war und zitterte wie ein winziges Tier.
»Hallo, Papa. Ich bin's, Sophie.« Ich spürte keine Regung in ihm, konnte aber die Berührung dieser klammen, bebenden Hand nicht länger ertragen. Also kniete ich mich neben seinen Sessel und begrüßte den Kater, der zusammengerollt beim Ofen lag. Er hob den Kopf und betrachtete mich mißtrauisch und wachsam. »Hallo, Percy«, sagte ich und spürte meinen Mut schwinden. »Ich bin's, Sophie.« Ich hielt ihm die Hand hin, damit er daran schnuppern konnte.
»Nein«, murmelte Papa in diesem Moment. »Nicht Sophie.« Seine Stimme klang wie ein Nebelhorn, das aus weiter Ferne über die leere See tönt. »Sophie ist weggegangen.«
Es zerriß mich fast, ihn so gebrechlich und elend zu sehen und denken zu müssen, daß ich daran schuld war. Ich hatte ihn ohne Vorwarnung, ohne Entschuldigung im Stich gelassen. Ich war zu selbstsüchtig und zu schuldbewußt gewesen, ihm zu schreiben. Er war mein Vater, in allen Belangen – außer in denen der Natur. Er hatte mich aufgezogen, und ich hatte ihn im Stich gelassen. Er war krank und schwach, und ich war weggelaufen.
Und dann dachte ich: Nein, er hat mich dadurch vertrieben, weil er mich an sich binden wollte. Er hatte mir alles abverlangt und mir alles verwehrt außer seiner eigenen Weisheit, die in mir knirschte wie eine rostige Säge. Nicht ich war es, die Schuld trug an seinem Zustand. Solange ich zurückdenken konnte, hatte er versucht, sich selbst zu töten, hatte sich mit Phantasien, Launen und Vermutungen und dem schwarzen Mohnsaft selbst zerstört.
Da kniete ich, streichelte Percy und wußte nicht, was ich sagen, was ich tun sollte. Ich durfte nicht schwanken oder weich werden und ihn nicht erneut das Kommando übernehmen lassen. Ich hatte schon geweint und würde sicher wieder weinen, aber nicht jetzt. Ich mußte Sindbad sein, der dem Alten Mann des Meeres gegenübersteht. Ein falscher Schritt, und Papa würde wieder über mich herfallen, mich tyrannisieren – obwohl er meiner Meinung nach so aussah, als würde er nicht mehr lange jemanden tyrannisieren können.
Und schon wurde ich weich. Es waren sicherlich seine letzten Tage. Wer sollte ihn pflegen, wenn nicht ich? Wer könnte das besser als ich? Und wer hatte sich um mich gekümmert, als ich klein und hilflos war?
»Ich hatte nicht vor wegzugehen.«
Was für ein erbärmlicher Neuanfang!
Er schwieg.
»Wie geht es dir, Papa?« fragte ich.
»Mit mir ist alles in Ordnung.« Sein Blick ging ins Leere, und seine Kiefer mahlten, als kaue er auf etwas Unsichtbarem. Ich wollte, daß er mich ansah, wollte, daß er mir zuhörte, wollte, daß er mir nur ein einziges Mal seine Aufmerksamkeit schenkte.
»Das hier ist Signor Pontorbo, Papa. Er ist Maler.«
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