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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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Prinz-Edward-Leuchtturm blinkte, und ein großes Schiff hing über den Hangars. Ich drehte den Kopf nach allen Seiten, um das Ostdock ausfindig zu machen – dort drüben war gerade Nacht. Waren die Laternen im Turm des Nachtwächters schon angezündet?
    »Bitte, Captain, leihen Sie mir für einen Moment Ihr Glas!« rief ich.
    Doch er schob mich beiseite. Ich war zu weit gegangen. Außerdem beschäftigte er sich jetzt mit fünf Dingen gleichzeitig – wie Sie es auch tun würden.
    Mit einem Knacken in den Ohren ging ich auf einem Pier an Land, den ich vorher nie betreten hatte. Als Kind war ich nie so weit von zu Hause weg gewesen. Um mich herum ragten die Rampen des unvertrauten Docks auf. Die Rufe und das Lärmen der Händler und Marktschreier hallte von ihnen wider.
    Bruno legte mir den Arm um die Schultern. Ich wollte, daß er ihn wegnahm.
    »Nun, wie kommen wir zu Ihrem Heim, Miss Clare?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Ich wußte es tatsächlich nicht. Inzwischen hatte ich Lambeth besser kennengelernt als diesen Ort hier.
    Wir nahmen eine Droschke, und ich nannte dem Fahrer das Ziel. »St.-Radigunds-Werft, bitte, neben dem Holzhof.« Und schon fuhren wir davon und überließen es dem Captain, sich um den Zoll und den Schiffsausrüster zu kümmern. Kurze Zeit später überquerten wir die Half Moon Street. Und da, unter den Passanten, erspähte ich eine vertraute, pilzfarbene Gestalt, die mit ihrem Karren um die Ecke bog.
    »Kappi!« rief ich, sprang aus der rollenden Kutsche und lief auf ihn zu.
    »Miss Sophie!« krähte er, griff mit seinen großen Pfoten nach oben und umfaßte meine Hüfte. Vor Überraschung vergaß er sich völlig und drückte sich an mich, wobei er seinen großen runden Kopf seitlich gegen meine Taille preßte. Ich hatte seinen Duft – nach staubiger Wolle – schon fast vergessen. Es war der Duft meiner Kindheit, als wir auf dem Küchenboden schöne Geschichten lasen. Seine Haut war hart, die Augen feucht, und er war von Kopf bis Fuß malvenfarben angelaufen. Hier und da zeigte er tiefblaue Flecken.
    Ich plapperte gleich los, umarmte ihn und tätschelte ihn immer wieder. »Oh, Kappi«, rief ich und schluchzte fast vor Freude. »Ich wollte nicht weglaufen, wirklich, ich wollte es nicht. Wie geht es dir, Kappi? Wie geht es Papa?«
    Mein kleiner Ophiq-Lehrer – mein erster und einziger Freund – sah zu mir auf. Voller Trauer hatte er ein senffarbenes Gelb angenommen. »Er bald sterben müssen, Sophie ...«
    Ich schrie auf und raufte mir die Haare. Die Kutsche rollte davon. Auf der anderen Straßenseite stand der junge sizilianische Gentleman mit Pferdeschwanz und Chinesenkittel und beobachtete dieses merkwürdige Wiedersehen mit hochgezogenen Brauen, als sei er sich nicht sicher, was er davon halten solle.
    »Zu verlieren Sophie hat beinahe Herz von Mr. Farthing gebrochen«, meinte Kappi.
    Bruno kam herüber.
    »Nein, Kappi, nein, nein!« rief ich. Es schmerzte mich in meinem tiefsten Innern. Ich konnte nicht verstehen, warum er nicht seine Schnauze hob und mir erzählte, daß mit Papa alles in bester Ordnung war. Ich wollte, daß er in seiner Tasche herumkramte und mir eine Münze oder eine wilde Blume gab, um meine Tränen zu trocknen, wie er es früher immer getan hatte. Statt dessen sagt er: »Sterben ist allgemein, auf allen Welten. Zu sterben ist nicht empfinden mehr Schmerzen.« Das war sein ganzer Trost für mich.
    Ich sah meinen neuen Bewacher an, der den Tod in seiner Tasche trug. Er nahm meine zitternde Hand zwischen seine Hände, die in Handschuhen steckten, und sah mich mit traurigem Blick an. Dann wandte er sich an Kappi und pfiff leise wie ein Vogelfänger. Kappi wurde vor Überraschung rosa und antwortete mit einem Pfeifen.
    Ich sah verständnislos von einem zum anderen. Bruno beherrschte die Ophiq-Sprache!
    »Was habt ihr da gesagt?« fragte ich sie. Ich konnte es nicht ertragen, daß sie sich unterhielten und ich nichts verstand.
    Bruno antwortete mir. »Zu sterben ist am Ende immer das Beste«, sagte er leichthin. Dann förderte er aus seinem Paletot ein Taschentuch zutage und reichte es mir mit einer kleinen Verbeugung. Ich akzeptierte seine Geste und sah ihn durch den Schleier meiner Tränen an. Kannte seine Höflichkeit denn keine Grenzen?
    Während ich mein Äußeres wiederherzurichten versuchte, betrachtete Bruno die kurze Häuserzeile hier am Rand von Nirgendwo. »Neben dem Holzhof. Also das da«, meinte er und zeigte darauf – als würde ich mein eigenes Haus nicht

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