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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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Unbehagen bemerkte, pirschte sich wie ein Fuchs an das Huhn langsam an mich heran. »Und ein festes Kinn hat er auch, stimmt's nicht, Lew?« rief er. »O ja, ein sehr festes Kinn sogar!« Er kicherte. Irgendwas sollte an seiner Bemerkung wohl lustig sein, aber ich konnte nicht darüber lachen. Ich merkte nur, wie mir die Hitze ins Gesicht schoß, und haßte ihn dafür.
    Ich mußte erreichen, daß man mich sofort bediente. Ich ertrug es nicht, auch nur einen Moment länger in der Nähe der Burschen zu sein. Während ich mich für einen Kohlkopf entschied, hörte ich, wie Kippers Bruder mit ihm über mich sprach. ›... wenn sie nur mal ein hübsches Kleid anziehen und etwas mit diesem Haar machen würde ... ‹
    Ich drehte mich heftig um und sah – nicht die grinsenden Gesichter der Jungs, sondern mein Spiegelbild in einem der blanken Tabletts auf ihrem Karren. Mein Gesicht, rot angelaufen und finster, blickte mir wie trauriger Mond entgegen. Was war das, was ich nach Lews Worten mit meinem Haar machen sollte, mit diesen Haaren, die so schwarz waren wie der Weltraum und deren Fransen meine breite Stirn bedeckten? Als ich noch klein war, pflegte Papa mir die Haare so kurz zu scheren wie die einer Puderquaste. Wenn sie mir jetzt in die Augen fielen, schnitt ich sie selbst binnen zehn Sekunden mit einer Schere ab.
    Um die Wahrheit zu sagen, habe ich nie in meinem Leben eine einzige Minute auf mein Äußeres verwendet. Wir besaßen keinen Spiegel, aber ich hatte auch nie den Wunsch danach geäußert. Ich wußte doch, wie ich aussah. Ich hatte große Augen und eine breite Stirn. Meine Nase war so rund wie ein Pilz, der Mund stets verkniffen. Schönheit war – genau wie Mütter – etwas, das nur andere Mädchen besaßen.
    »Der Gentleman ist ein Inspekteur, den der König der Schweiz gesandt hat«, sagte ich.
    Die Leute starrten mich verblüfft an.
    »Sie werden diesen ganzen Marktplatz einebnen und ein Dock für Eisenbahnschiffe bauen«, rief ich wild. »Das alles hat er Papa erzählt.«
    Kipper brach in schallendes Gelächter aus. »Als nächstes werden sie ihn noch zum Tee einladen, Lew!«
    Ich warf den Kohlkopf zurück auf den Karren. Er prallte gegen die anderen Kohlköpfe, fiel zu Boden und rollte quer über die Straße. Ich floh vor dem Lachen, das laut hinter mir herschallte.
    Papa lag im Bett und schlief. Ich ging in mein Zimmer. Ein hübsches Kleid! Ich besaß keine hübschen Kleider. Ich hatte einen unansehnlichen grauen Kittel, der einmal schwarz gewesen war, und einen häßlichen schwarzen, der einmal braun gewesen war. Das einzig Hübsche, das ich besaß, war mein Ring mit dem geschliffenen Kristall. Ich holte ihn aus der Dose und zog ihn an, aber meine Hände waren rot und grob von der Hausarbeit, und der Ring machte sie nicht ansehnlicher. Unten war der Herd ausgegangen, und ich hatte die Asche vom Rost zu schütteln, Holzscheite hineinzuschichten und ihn anzuzünden. Ich kniete vor dem kalten Herd nieder. Erst als eine Träne in den Kohleneimer tropfte, wurde mir bewußt, daß ich weinte.
    An diesem Abend stand Papa wie gewöhnlich auf. Er kam aus seinem Schlafzimmer und setzte sich an den Tisch. Sein Gesicht war hager und bleich wie Kerzenwachs. Bei hellem Tageslicht sah man die Adern durch seine Haut schimmern. Inzwischen mußte schon zwei- oder gar dreimal die Woche Opium gekauft werden. Seine Augen waren ständig rot gerändert, obwohl ihre Schärfe nicht gelitten hatte. Als ich den Teller Suppe vor ihn hinstellte, bemerkte er den Ring an meinem Finger.
    Der Anblick regte ihn nicht weniger auf als früher. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist, wenn du das Ding am Finger hast?« fragte er zornig.
    Sofort bekam ich rote Ohren. Ich war beleidigt und verletzt. Konnte kein Mann mich ansprechen, ohne daß ich wie eine gesalzene Schnecke zusammenschrumpfte? Ich gab keine Antwort.
    »Ich mag es nicht, daß du ihn trägst«, fuhr Papa fort. »Du wirst ihn noch verlieren.« Seine Stimme, die früher laut in meinem Ohren dröhnte, klang nun schwach und gereizt, war voller Furcht selbst vor kleinsten Problemen. Ich wollte nicht im selben Raum neben ihm sitzen, während er seine Suppe schlürfte und mit seinen gichtigen Fingern das Brot auseinanderriß.
    Ich stellte den Kessel zurück auf den Ofen. »Deine Stiefel sind geputzt, Papa. Die Laterne steht wie immer auf dem Regal neben der Tür.«
    »Sophie! Wo willst du hin?«
    »Ins Bett.« Sonst gab es doch keinen Ort für mich, wohin ich gehen konnte. Die

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