Sophies Kurs
die Seite.
Ein Buchstabe konnte also auch für zwei Worte stehen – oder sogar für drei. Aufgeregt blätterte ich die Seiten unseres Buches zurück. »Sieh mal, Kappi, M steht auch für Matte.«
Auf diese Weise wurden mir die Buchstaben unserer Sprache beigebracht – von einer armen, geduldigen Kreatur, die selbst mit einer anderen aufgewachsen war. Papa erlaubte es, obwohl, wie er sagte, Lesen die Augen und das Gedächtnis überanstrengten. Aber einem Mädchen konnte er es erlauben, denn unsere Kräfte waren von Natur aus gering und bedurften künstlicher Unterstützung. Außerdem konnte das Lesen mich beschäftigen, wenn ich nichts anderes zu tun hatte. Trotz seines großen Wissensschatzes kannte Papa nicht mehr Buchstaben, als in seinem und meinem Namen vorkamen – und natürlich in dem Namen Estelle auf seinem Arm. Dafür beherrschte er die Signalsprache und die Lichtsignale der Schiffe in Sichtweite, die roten und grünen Laternen, die inmitten der Sterne aufblinkten. Und kam er trotzdem mal in die Verlegenheit, etwas lesen zu müssen, war da immer noch Kappi.
»Viel gut, Miss Sophie«, kollerte Kappi als Antwort auf meine Entdeckung, und orangefarbene Flecken der Befriedigung blühten in dem Gelb seiner Haut auf. Er zurrte den Kehrsack vor seinem mächtigen Bauch zurecht und begann darin zu wühlen. Er hatte mir etwas mitgebracht. Ein Geschenk. Eine Belohnung.
Es war eine fremde Münze, für meine Sammlung.
Papa hatte etwas dagegen, daß Kappi uns etwas gab. »Sind wir neuerdings Bettler«, grummelte er, »daß wir jetzt schon Almosen von einem Straßenkehrer annehmen ...?« Also verbarg ich meine Schätze vor seinen Augen und bewahrte sie in einer Senfdose auf: meinen
Liga-der-Hoffnung-Anstecker,
den gestanzten Messingknopf von einer Matrosenuniform – kostbare Dinge, die, von höheren Bereichen ausgesondert, irgendwie im Staub auf Kappis Kehrblech aufgetaucht waren. Voller Zweifel bot er mir sie an: »Vielleicht Sie überlegen sie zu behalten, Miss Sophie.« Wie rot er geworden war aus Verlegenheit, als ich sie das erste Mal aus seinen großen Fäustlingen entgegennahm! Entwertete Transportmarken – darunter eine Gedenkausgabe an die Landung auf
Calliope
mit einem Chip darin – und einen seltsamen Ring besaß ich schon so lange, daß ich mich gar nicht mehr an die Zeit erinnern konnte, als sie mir noch nicht gehörten. Der Ring war aus goldfarbenem Metall, wurde aber nie stumpf oder lief grün an wie der Knopf, und sein kleines Kristalloval trug als Emblem einen Kompaß-Pfeil und ein menschliches Auge. Ich habe den Ring immer noch. Er steckt an meinem Finger, während ich dies hier schreibe.
Papa meint, die Zeichen auf dem Ring seien eine Art Schrift – was beweise, daß es Chinesisch sei. Bei seinen Worten lief Kappi grün an und blickte zweifelnd umher. Leise gab er zu bedenken, ob Mr. Farthing nicht Alt-Ägyptisch gemeint haben könne – und sofort regte Papa sich mächtig auf. Er regte sich immer auf, wenn er mich mit meinem Ring spielen sah, und befahl mir, ihn wegzulegen. Aber ich fand ihn sehr schön.
»Hast du ihn mir gegeben, Kappi?«
»Nein, Miss Sophie ...«
Papa fiel ihm ins Wort und befahl mir, ihm die Schnürsenkel zu binden. »Weißt du, Don Caldero kam vom Beteigeuse zurück«, erzählte er, während ich mich mit den Knoten abmühte. »Keiner außer mir konnte durch das Fernrohr seine Farben erkennen.« Ich hörte nicht mehr hin. Seine Geschichten kehrten immer wieder, jedesmal dürftiger und verstümmelter. Dabei hatten Kappi und ich inzwischen das ABC durch und lasen Bücher mit Geschichten von Cats, Caterpillars, Camels und Cinderellas, von denen man keine einzige jemals auf Haven zu sehen bekäme.
Ich glaube, das erste Buch, das wir lasen, war
Robinson Crusoe
von Daniel Defoe. Es war voller Überraschungen. Ich wußte, die blauen Flecke auf der Erde unter den zerfledderten weißen Wolkenstreifen waren Meere, wie die Meere auf dem Mond – aber waren sie wirklich voll Wasser? Ich bekam große Augen – und Mr. Defoes Schiffe hockten im Wasser und stiegen nicht auf und flogen davon, sondern gingen sogar unter! – das war eine riesige Neuigkeit für mich, die ich kaum glauben konnte. Wie Mr. Crusoes Schiff im Meer, versank ich in den Fluten von Mr. Defoes Wundern, und wie er zu dem Wrack kehrte ich immer wieder zu dem Buch zurück, um ihm weitere höchst erstaunliche Dinge zu entlocken. Wie sehnte ich mich danach, so wie Robinson Crusoe auf einer Insel leben zu können,
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