Sophies Kurs
Eisenbahntrasse. Die Abhänge zu beiden Seiten waren zerklüftet und zerrissen, große Felsen ragten in gefährlichen Winkeln ins Leere.
Bruno stand vorsichtig auf.
»Mi vogliate perdonare, signorina«,
sagte er förmlich. »Wir steigen hier aus. Es wäre nicht sinnvoll, Sie bis zur Eingangstür fahren zu lassen.«
Wir sprangen aus der Kutsche und ließen sie ohne uns weiterrollen. In der geringen Schwerkraft, geschützt durch unsere Mäntel und Helme, umrundeten wir einen riesigen Felsen und erreichten den Hunchback Fell. Über uns auf einem Felsvorsprung erblickten wir ein weißes Herrenhaus, das wie ein Schneehaus durch den Nebel schimmerte. Es war schwer zu erkennen, ob die Fenster erleuchtet waren oder nur die Funken reflektierten, die in der rußigen Luft auf und ab tanzten. Das ganze Gebäude war über und über verziert mit Säulen und Türmchen, und, wie ich beim Näherkommen erkannte, mit Marmorfiguren: mit nackten Männern mit Speeren und nackten Frauen mit Händen voller Weintrauben. Ihre leeren Augen starrten über die öde Landschaft, und wie Tränen rannen die Regentropfen über ihre steinernen Wangen.
Der rauhe Wind blies uns in den Rücken und trieb uns voran. Schließlich erreichten mein Begleiter und ich eine Ecke des Hauses, wo der unsichere Boden weggesunken war. Schwere Holzbalken, deren Fracht hierher Unsummen verschlugen haben mußte, stützten hier die Wand – die Wand eines zerfallenden Hauses auf einem giftigen Mond ohne Leben. Als ich das sah, wurde mir klar, daß hier unmöglich der Weihnachtsmann wohnen konnte.
Bruno legte seinen Helm an meinen und sagte:
»In bocc' al lupo«,
was für jemand, der sich in Gefahr begibt, soviel bedeutet wie: Viel Glück. Dann öffnete er mit der Klinge seines Messers geschickt ein Türschloß, und wir schlüpften durch schwere wollene Vorhänge in einen Gang. Die Wände waren aus grauem Stein, aber behauen wie Holzpaneele, und den Boden bedeckte ein schwarzglänzender Teppich. Es gab weder Dienstboten noch einen Pförtner.
Auf leisen Sohlen schlichen Bruno und ich durch das dunkle Haus. Gestalten schienen aus den Schatten zu wachsen, die großen Türen waren alle fest verschlossen. Daneben standen dunkle Laternen auf Eisenständern und getrocknete venusianische Farne in schwarzen Urnen. Eine Skulptur zeigte fette kleine Babies mit viel zu kleinen Flügeln, die mit echten Engeln überhaupt nicht zu vergleichen waren. Sie schwebten über einem Gebilde, das ich für einen riesigen konisch zulaufenden Berg Eiskrem hielt. Und da war noch ein zweiter Berg mit einer Urne auf der Spitze, über die eine Flagge wie ein Bettuch ausgebreitet lag, und zu beiden Seiten neigte jeweils eine blasse Frau den Kopf und bedeckte die Augen mit einer Hand. Überall standen oder lagen verzierte Uhren, polierte Eier aus Halbedelstein, und zahllose Kästen mit wunderschön bunten Schmetterlingen.
Ich glaubte schon, in einen Nebel hineinzulaufen, aber dann bemerkte ich, daß es die Kondensation in meinem Helm war. Ich nahm ihn ab und hängte ihn an meinen Gürtel. Die Luft war hier sehr heiß und drückend. Trotz der Filter roch sie schweflig und sauer. Die dicken weinroten Vorhänge waren alle zugezogen. Draußen warfen die klagenden Winde von Io ihren Regen und Schmutz gegen die Fenster.
Uhren tickten von allen Seiten und markierten unseren Weg. Plötzlich ertönte ein dumpfer Knall, dem ein leichtes Beben folgte. Die Steineier wackelten auf ihren Regalen. Bruno winkte mich zu sich heran. Mit den Lippen formte ich das Wort ›Erdbeben‹, doch er schüttelte den Kopf und bedeutete mir mit einem Handzeichen stehenzubleiben. Auf Zehenspitzen huschte er lautlos den Gang entlang und verschwand über eine Treppe nach oben.
Ich folgte ihm langsam. Er stand an einem Fenster und schaute hinaus. Unten auf der Zufahrt stand die Kutsche in hellen Flammen, und ringsum brannten Teile ihres Aufbaus. Der Ochse muhte verängstigt, sein zottiges Fell war an mehreren Stellen versengt.
»Fortescue!« flüsterte mein Beschützer.
Der mechanische Fahrer saß steif auf dem Bock, von Flammen umgeben. Er schwankte hin und her, wirbelte immer wieder auf dem Drehzapfen seiner Hüfte herum, schaffte es aber nicht, vom Bock zu klettern. Er hielt eine Hand gegen die Brust gepreßt, wo unter seinem verbrannten Mantel eine Gummiblase unablässig weiterpumpte.
Ich wollte schon die Treppe hinuntereilen, um den armen Leuten zu helfen, aber Bruno hielt mich zurück. Er zog mich zu sich und legte mir
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