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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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meinem ärmlichen Aufzug keinen Anstoß, obwohl ich sie nicht für eine reiche Frau hielt. »Da gäbe es eine Menge für dich zu tun, Sophie«, meinte sie zu meinem Vorschlag. »Es gäbe zwar kaum Briefe zu schreiben, das solltest du wissen. Aber zwei zusätzliche Hände wären schon ganz nützlich.« Sie neigte den Kopf auf die Seite und sah mich erfreut an, als sei ich diejenige, die ihr etwas Gutes tat. Sie war mir wirklich ein Rätsel. »Es wäre schon schön, nicht jedesmal die Straße hinaufgehen zu müssen, wenn ich etwas zum Lesen brauche. Gertie kann auch lesen, nicht wahr, Gert?« wandte sie sich an ihre Tochter, die an der Tür stand und mit ihrem Absatz dagegenstieß. »Nur manchmal verschluckt sie die Worte etwas und kann sie nicht deutlich herausbringen«, erklärte ihre Mutter.
    Captain Allardyce schien über seinen Brief sehr erfreut zu sein. Er konnte ihn lesen, sagte er, da er wußte, was drinstand, aber er hätte einen Monat dafür gebraucht, einen so langen und inhaltsschweren Brief zu schreiben. Auf seinem Weg nach Hampstead am nächsten Tag wollte er ihn zur Post bringen. Er mußte sich als erstes um die Ladung kümmern. Der
Bull
sollte nach Merkur gehen, dort seine Ladung gesalzenen Hering gegen eine Ladung Dämmerungsfrüchte tauschen, die für den Mond bestimmt war.
    »Wo wohnt denn Mr. Cox?« fragte ich ihn.
    Ich hatte Mr. Bleen von meiner Begegnung mit Mr. Cox berichtet, und er hatte es Mr. Allardyce weitererzählt. Der Captain lachte und schlug zweimal mit der flachen Hand auf den Tisch. »Da mußt du die Herrschaften im Oberhaus fragen.«
    »Wo ist das?«
    »Er nimmt dich auf den Arm, Liebes«, meinte Mrs. Rodney. »Das ist kein Ort, wo kleine Mädchen hingehen können.« Sie kicherte, als sei ich das kauzigste Wesen, das ihr je begegnet war.
    »Ich denke, ich kann sicher einen Polizisten danach fragen«, sagte ich schüchtern.
    Der Captain wünschte mir dazu viel britisches Glück und ging in den Pub
Anker der Hoffnung,
wo Mr. Rodney arbeitete. Ich wußte, daß er mich dorthin nicht mitnehmen wollte. Trotzdem trat ich hinter ihm auf die Straße hinaus, blieb auf den Eingangsstufen stehen und schaute den Marktplatz hinauf und hinunter. Vielleicht kam ja gerade der Pilot des Gesandten seiner Lordschaft vorbei, um auf dem Markt ein Pfund Innereien zu kaufen.
    Gertie und Johnny, ihr jüngerer Bruder, spielten draußen mit einer Schar anderer Kinder. Sie starrten alle zu mir herüber und tuschelten miteinander. Als ich zu ihnen hinsah, hob einer von ihnen einen Brocken getrockneten Schlamm auf und warf ihn nach mir. Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen, und ich lief ins Haus. Ich hatte recht: Die Erde war nicht anders als High Haven.
    Mrs. Rodney erklärte, an diesem Tag gäbe es keine Arbeit mehr für mich und schickte mich ins Bett, damit ich mich nach der langen Reise ausruhen konnte. Ich ging nach oben und lag dort allein, deprimiert und völlig erschöpft, konnte aber trotzdem nicht einschlafen. Ich sah in meinen Sack und fand zwischen den Nahrungsmitteln ein Messer. Es war ein Schälmesser und stammte aus der Kombüse des
Appleby Bull.
Der Koch mußte es für mich entwendet haben. Mir war seine kalte schwarze Form und die scharfe Spitze, die aussah wie der Zahn eines scheußlichen Eisenwesens, vertraut, und ich erschrak sehr darüber, es im Sack vorzufinden. Ich lag in Gerties Bett und fühlte mich einsamer als je zuvor in meinem einsamen Leben, war wie betäubt von der großen, lauten, gleichgültigen Erde. Ich kam mir vor wie eine Fliege, die man auf ihren Gehsteigen zerquetscht hat. Ich aß ein paar Datteln und weinte leise. Als Gertie heraufkam, um mich zum Abendessen zu rufen, tat ich so, als schliefe ich.
    Mrs. Rodney ließ mich den ganzen nächsten Tag verschlafen. Ich wurde nicht wach, als Gertie aufstand, oder als Captain Allardyce das Haus verließ. Niemand weckte mich – bis Johnny heraufgestürmt kam und erklärte, daß der Maat des
Bull
einen Brief gebracht habe, der vorgelesen werden mußte.
    Der Maat saß in der Küche. Sein Haar war naß, denn es regnete. Ich las ihm seinen Brief vor, während ich das Frühstück verzehrte, das Mrs. Rodney speziell für mich zubereitet hatte. Der Brief kam von seiner Frau, die als Haushälterin in Northumberland arbeitete. Er habe sie jetzt schon drei Jahre nicht mehr gesehen, sagte er. In ihrem Brief sprach sie von sehr persönlichen Dingen, und es war schon sehr seltsam für mich, diese Worte offen vor ihm auszusprechen.

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